106 8 11. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich.
derselben Weise können die obrigkeitlichen Hoheitsrechte der Einzel-
staaten allerdings nicht ausgeübt werden und überhaupt nicht fort-
bestehen, soweit das Reich ihre Ausübung oder Fortexistenz nicht
ferner duldet; aber dessen ungeachtet wurzeln diese Rechte der Einzel-
staaten nicht im Willen des Reiches und sind nicht aus der Machtfülle
des Reiches abgeleitet, sondern sie haben ihren positiven Grund
in der historischen Tatsache, daß die Einzelstaaten älter sind als das
Reich, daß sie souveräne Gemeinwesen waren, bevor das Reich ge-
gründet worden ist').
Das Verhältnis der Einzelstaaten zum Reich kann juristisch nicht
darnach bestimmt werden, wie es sich im Laufe der geschichtlichen
Entwicklung einmal gestalten könnte, sondern darnach, wie es nach
dem gegenwärtig gültigen Recht geregelt ist. Der jetzige Rechtszustand
aber ist der, daß den Einzelstaaten ein Gebiet staatlicher Tätigkeit
und Macht verblieben ist, auf welchem sie, und nicht das Reich, die
Herren sind.
Der Unterschied dieser Sphäre gegen diejenigen Gebiete, auf denen
das Reich nach Art. 4 kompetent ist, besteht nur darin, daß die Einzel-
staaten nicht bloß die Selbstverwaltung haben, sondern daß sie auch
die rechtlichen Normen dieser Verwaltung aufstellen, die Ziele, Zwecke
und Mittel der Verwaltung rechtlich bestimmen. Das ist das wesent-
liche Unterscheidungsmerkmal zwischen den zur Kompetenz des Rei-
ches gezogenen Gebieten und den nicht dazu gehörigen, daß auf den
ersteren das Reich die Rechtsnormen der Verwaltung gibt, auf den
letzteren der Einzelstaat. Auf den letzteren Gebieten hat der Einzel-
staat die Selbstgesetzgebung, die Autonomie.
Der Begriffder Autonomie ist dem der Selbstverwaltung
analog und wird mit ihm nicht selten zusammengeworfen. In früherer
Zeit verstand man auch unter Autonomie, gerade wie jetzt vielfach
unter Selbstverwaltung, die natürliche Freiheit des Menschen, seine
Rechtsverhältnisse durch Willensakte zu ordnen?). Dieser Begriff ist
kein Rechtsbegriff, sondern nur der Ausdruck für die rechtlich aner-
kannte Willens- und Handlungsfähigkeit. Autonomie ist, im juristi-
schen Sinne, immer eine gesetzgebende Gewalt. Aber sie steht
im Gegensatz zur Souveränität. Selbstgesetzgebung kann man nur
demjenigen Gemeinwesen als besondere Eigenschaft zuschreiben, dem
die Gesetze auch von einer über ihm stehenden Gewalt gegeben wer-
den könnten; die wahrhaft souveräne Gewalt kann keine Gesetze
von außen erhalten, es würde daher eine selbstverständliche Trivialität
sein, von ihr auszusagen, daß sie die Befugnis habe, sich selbst Gesetze
zu geben. Autonomie, als ein juristisch relevanter Begriff, setzt daher
eine nicht souveräne, Öffentlich rechtliche Gewalt voraus, der die
1) Uebereinstimmend Hänel, Staatsr. I, S. 320 u. 799. Die Einwendungen,
welche Le Fur S. 380 erhebt, sind meines Erachtens nicht von Belang.
2) Vgl. darüber v. Gerber, Ges. Jurist. Abh. I, S. 36.