110 8 11. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich.
staaten gegen das Reich'!). Die Dienstaufsicht vollzieht sich innerhalb
des eigenen Behördenapparates des Reichs selbst; die Reichsaufsicht
richtet sich gegen eine dem Reich gegenüberstehende, von ihm ver-
schiedene, in ihrem Wirkungskreise selbständige Person.
2. Die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten durch eine Reichs-
behörde ist keine Beaufsichtigung. Nur in einem Punkte besteht
eine Berührung zwischen beiden; sowohl die Reichsaufsicht wie die
Reichsrechtsprechung dienen der einheitlichen Auslegung und gleich-
mäßigen Anwendung der Reichsgesetze;, im übrigen sind sie grund-
verschieden ?).
Die Aufsicht setzt keinen Streit, ja überhaupt keine Meinungs-
verschiedenheit über Sinn und Tragweite eines Reichsgesetzes voraus;
sie ist eine fortwährende Beobachtung und tritt nicht in die Erschei-
nung, wenn sie zu dem Ergebnis führt, daß die Einzelstaaten die
Reichsgesetze richtig handhaben. Auch wenn der Reichsbevollmächtigte
sein Visum auf eine Verfügung der Zolldirektion setzt, ohne sie zu
bemängeln, übt das Reich durch ihn die Ueberwachung aus. Die Ent-
scheidungen der obersten Reichsgerichte setzen stets einen Streit über
einen konkreten Anspruch oder eine konkrete Strafsache u. s. w. voraus.
Die Entscheidung eines Gerichts eines Einzelstaates, welche durch das
Reichsgericht für unrichtig erklärt wird, kann nicht als eine Verletzung
der »Gehorsamspflicht« des Staats gegen das Reich angesehen werden;
dieselbe Verschiedenheit der Ansichten kann auch zwischen den Unter-
gerichten und Obergerichten eines und desselben Einzelstaates vor-
kommen. Die Rechtsprechung unterliegt überhaupt keiner Beauf-
sichtigung; nur die Justizverwaltung kann beaufsichtigt werden. Für
die Entscheidungen der obersten Reichsbehörden ist die Rechtskraft
charakteristisch; auf dem Gebiet der Aufsicht gibt es keine Rechtskraft?).
3. Wenn zwischen der beaufsichtigenden Reichsbehörde und der
Regierung des Einzelstaates über die richtige Auslegung oder Anwen-
dung eines Reichsgesetzes eine Meinungsverschiedenheit besteht, so sind
an dem Konflikt lediglich das Reich und der betreffende Einzelstaat
beteiligt; dagegen nicht der Untertan, welcher sich durch die falsche
Anwendung verletzt fühlt. Der Reichskanzler wird zwar in vielen
Fällen durch eine Beschwerde desselben zur Ausübung des Aufsichts-
rechts veranlaßt werden; diese Beschwerde hat aber nicht den Charakter
eines Rechtsmittels, einer Rechtsbeschwerde, sondern ist eine Anzeige,
eine tatsächliche Mitteilung, deren nächster und unmittelbarer Zweck
1) Hänel S. 302. 2) Hänel S. 308.
3) Es ist daher nach m. Ans. verkehrt, wenn Kiefer S. 69ff. die Spruchbe-
hörden des Reichs als Organe der Reichsaufsicht behandelt. Vgl. meine Besprechung
im Arch. f. öffentl. R. Bd. 26 S. 365. Auch das Aufsichtsamt für die Privatversiche-
rungen hat mit der Reichsaufsicht des Art. 4 der RV. nichts zu tun; denn es beauf-
sichtigt nicht die Einzelstaaten, sondern die Geschäftsbetriebe von Privatunter-
nehmungen.