Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 12. Die Rechte der Einzelstaaten. 117 
andern, aber es setzt dies seine spezielle Einwilligung voraus!). 
Von diesen Fällen abgesehen, hat die Reichsverfassung aber den 
Grundsatz, daß alle Bundesstaaten gleiche Rechte und Lasten haben, 
überall durchgeführt, wenngleich er als ein allgemeines Prinzip nicht 
ausgesprochen worden ist. Den deutlichsten Ausdruck hat er im 
Art. 58 hinsichtlich der Kosten und Lasten des Kriegswesens gefunden, 
ferner im Art. 70 hinsichtlich der Verteilung der Matrikularbeiträge. 
Aber auch in allen anderen Beziehungen finden Belastungen und Be- 
schränkungen einzelner Staaten über das Maß hinaus, welches für 
alle als Regel gilt, nicht statt, und es muß als ein allgemeines Prinzip 
für die Reichsgesetzgebung überhaupt anerkannt werden, daß jede Ab- 
weichung von der Gleichberechtigung zu Ungunsten eines oder einzel- 
ner Mitglieder des Reiches deren spezielle Zustimmung erfordert ’?). 
II. Sonderrechte einzelner Mitglieder (jura sin- 
gularia). Unter Sonderrechten versteht man bestimmte Rechte ein- 
zelner Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit, welche A b- 
weichungen von der sonst geltenden Regel zugunsten eines oder 
einzelner Staaten bilden. Sie ergeben sich nicht aus der Anwendung 
der verfassungs- oder gesetzmäßigen Prinzipien, sondern sie beruhen 
auf der Nichtanwendung derselben; sie sind nicht Reflexwirkungen 
  
1) Beispiele sind die Ausantwortung der preußischen Marine und aller Marine- 
Etablissements an das Reich ohne Entschädigung, die Abfindung des Fürsten Thurn- 
Taxis für sein Postregal auf Kosten Preußens, die zeitweise Verwendung preußischer 
Beamtenkräfte, namentlich in den Ministerien, für Reichszwecke, der Zuschuß Preu- 
Dens zu den Kosten des Nord-Ostsee-Kanals u. dgl. Daß Ausnahmen von dem 
Grundsatz der Gleichheit der Rechte und Pflichten vorkommen, ist kein genügender 
Grund, um die Geltung dieses Prinzips als Regel zu bestreiten, wie es Le Fur 
S. 706 sq. tut. 
2) Labanda.a. 0. S. 1514, 1515. Die Polemik Lönings, Annalen S. 359 ff. 
gegen die Annahme eines solchen Sonderrechts ist insofern gegenstandslos, als 
ich den Anspruch jedes Einzelstaates auf gleiche Behandlung gerade für das Gegen- 
teil eines Sonderrechts, für den allen Mitgliedern gleichmäßig zugute kommenden 
Ausfluß der Mitgliedschaft, für ein Mitgliedschaftsrecht erklärt habe. Wenn 
er aber den Rechtssatz selbst, daß die Verletzung dieses Mitgliedschaftsrechtes ohne 
Zustimmung des Berechtigten nicht zulässig sei, bestreitet, so hätte es m. E. dafür 
gewichtigerer Gründe bedurft, als daß der Rechtssatz in der Regel entbehrlich sei, 
weil seine Verletzung schon durch die „Ehrlichkeit und Gerechtigkeit“ sich verbiete 
und daß er unter Umständen unbequem sein könne. Meyer, Staatsrecht 8 164, 
Note 10 behauptet sogar, daß für den Grundsatz der Rechtsgleichheit unter den Bun- 
desstaaten „die Reichsverfassung keinerlei Anhalt darbiete“. Dagegen ist dieses 
Prinzip anerkannt von Zorn], S. 115; GierkeS.1171; Mejer, Einleitung S. 341; 
Jellinek, Staatenverbind. S. 302 fg.; Seyel S. 422 und Anderen. Die Behaup- 
tung von Hänel, Staatsr. I, S. 608, daß der Reichsverfassung im Gegensatz zum 
Prinzip der Gleichberechtigung „die Abstufung der organischen (?) Rechte der Ein- 
zelstaaten nach einer ungefähren Schätzung ihres verschiedenen politischen Gewichts“ 
zugrunde liegt, steht, sofern damit etwas anderes als die Präsidialrechte Preußens 
und die Stimmenverteilung im Bundesrat gemeint sein sollte, im offenen Wider- 
Spruch mit der Verfassung und Gesetzgebung des Reichs.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.