Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

$ 12. Die Rechte der Einzelstaaten. 123 
nannte Reservatrechte begründen, an eine besonders erschwerte Form 
der Abänderung geknüpft, nämlich daß die zu Verfassungsänderungen 
erforderliche Majorität die Stimmen desjenigen Staates enthalten muß, 
dessen Vorrecht beseitigt werden soll. Hieraus folgert er sodann, daß 
es nicht möglich sei, durch Akte der gewöhnlichen Gesetzgebung oder 
durch Beschlüsse des Bundesrats Sonderrechte zu begründen, und daß 
auch den verfassungsmäßigen Sonderrechten kein anderer Schutz ge- 
währt sei, »als dies der souveräne Staat seinem Wesen nach vermag«. 
Dem Reich gegenüber gäbe es keine jura singulorum seiner Mitglieder. 
»Auch hier bewähre sich das Reich als ein mit dem Einheitsstaat 
gleichartiges Staatswesen.« 
In diesen Worten ist der fundamentale Irrtum der Hänelschen 
Deduktion ausgesprochen. Im Einheitsstaate gibt es keine Mitglied- 
schaft und daher auch keine Sonderrechte als individuelle subjektive 
Rechte: der Begriff der Sonderrechte ist von dem der Mitgliedschaft 
unzertrennlich und setzt mit Notwendigkeit einen korporativen Ver- 
band voraus. Hierin unterscheidet sich der Bundesstaat vom Einheits- 
staat, daB der erstere eine korporative Vereinigung von Staaten ist 
und Staaten zu Mitgliedern hat, der letztere nicht. Indem Hänel 
den Bundesstaat mit dem Einheitsstaat wegen des beiden gemeinsamen 
Merkmals der Souveränität identifiziert, läßt er denjenigen Unter- 
schied zwischen beiden unbeachtet, welcher gerade für die Sonder- 
rechte maßgebend ist. Der Bundesstaat bildet hinsichtlich der 
Zulässigkeit und des Rechtsschutzes von Sonderrechten mit den Kor- 
porationen, auch den nichtsouveränen, eine gemeinsame Kategorie, 
nicht mit dem souveränen Einzelstaat. Wäre die Hänelsche Auf- 
fassung richtig, so hätte die Einräumung von Sonderrechten in der 
Reichsverfassung einen geringen Wert; denn der »objektive Rechtssatz« 
des Art. 78, Abs. 2 kann wie jede andere Bestimmung der Verfassung 
abgeändert werden; die verfassungsmäßigen Sonderrechte ‚würden da- 
her nur unter der Resolutivbedingung eingeräumt sein, daß es dem 
Bundesrat und Reichstag beliebt, sie zu widerrufen, nachdem zuvor 
Art. 78, Abs. 2 abgeändert worden ist. Ihre Garantie wäre lediglich 
eine moralische. Das entspricht zweifellos nicht der Tendenz, in wel- 
cher bei der Reichsgründung gewissen Staaten Sonderrechte eingeräumt 
worden sind. 
Ebenso unbegründet ist die Behauptung Hänels, daß durch ge- 
wöhnliche Gesetze und Bundesratsbeschlüsse keine wirklichen Sonder- 
rechte begründet werden können. Wenn sich die gesetzgebenden Or- 
gane des Reichs z. B. bei einer Neuordnung des Maß- und Gewichts- 
wesens und des Bankwesens dahin einigen, daß Bayern seine eigene 
Normaleichungskommission und seine eigene Notenbank haben soll, 
so kann dies nach Treu und Glauben nicht anders verstanden werden, 
als daß für Bayern ein subjektives Recht auf die Fortdauer 
dieser Einrichtungen konstituiert werden soll. Dies gilt auch von dem
	        
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