8 12. Die Rechte der Einzelstaaten. 127
Il. Rechte der Bundesstaatenals Einzelner. (Jura
singulorum.) Die Mitgliedschaft bei einer Korporation absorbiert nicht
die Rechtssphäre der Mitglieder; die letzteren hören dadurch, daß sie
Teile einer höheren Gesamtheit werden, nicht auf, Individual-Existen-
zen zu sein mit selbständiger Persönlichkeit. Es ergibt sich daraus
eine Scheidung derjenigen Rechte, welche durch die Mitgliedschaft, d. h.
durch das Verhältnis zur Gesamtheit hervorgerufen und begründet wer-
den, und derjenigen Rechte, welche den Mitgliedern ut singulis, als
Sonderpersönlichkeiten, zustehen. Diese Scheidung wird durch den
Zweck und die Aufgabe der Korporation und durch die zur Erreichung
dieses Zwecks der Korporation verfassungsmäßig zugewiesenen Mittel,
oder mit einem Worte: durch die Kompetenz der Korporation näher
bestimmt. Alles, was der Kompetenz der Korporation entzogen ist,
bildet den Bereich der jura singulorum ihrer Mitglieder ').
Diese allgemeinen, aus der Natur der Korporation sich ergebenden
Sätze finden auch auf das Deutsche Reich Anwendung. Die Bundes-
staaten als solche, als einzelne, sind nicht völlig im Reich aufgegangen,
ihre Rechtssphäre ist nicht vollständig vom Reich aufgesogen worden.
Soweit das Reich kompetent ist, bilden die Staaten tamquam unum
corpus und sind an der rechtlichen Gewalt des Reiches nur als Mit-
glieder beteiligt; soweit dagegen die Kompetenz des Reiches ausgeschlos-
sen ist, sind die Staaten als individuelle Personen des öffentlichen
Rechts, als Einzelne, Subjekte der Staatsgewalt.
Der Kreis der jura singulorum wird daher bestimmt durch die der
Reichskompetenz gezogenen Grenzen. Demnach gehören dahin:
1. Alle fiskalischen Rechte der Einzelstaaten, soweit nicht die zu
Zwecken der Verwaltung dienenden Gegenstände mit der Verwaltung
selbst auf das Reich übergegangen sind, nach näherer Bestimmung des
Reichsgesetzes vom 28. Mai 1873.
2. Die Selbstverwaltungsbefugnisse der Einzelstaaten hinsichtlich
der der Gesetzgebung und Beaufsichtigung des Reiches unterliegenden
Angelegenheiten.
3. Die Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit der Einzel-
staaten hinsichtlich der außerhalb der Reichskompetenz liegenden An-
gelegenheiten.
Die Begrenzung dieser jura singulorum ist ausschließlich
Sache des Reiches?). Da das Reich seine Kompetenz unter Beobach-
tung der im Art. 78 aufgestellten Regeln erweitern kann, so ist es ihm
anheimgestellt, den Kreis der jura singulorum einseitig enger oder
weiter abzustecken. Nach der umfassenden Zweckbestimmung des
1) Dies ist auch der technische Begriff der jura singulorum im Gegensatz
zu Sonderrechten (jura singularia) im alten deutschen Reichsrecht. Laband a. a. 0.
S 1489 fg. Vgl. namentlich Häberlin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts I,
. 585 ff.
2) Vgl. Labanda.a. O. S. 1505.