128 8 13. Die Existenz der Einzelstaaten.
Reiches im Eingange der Verfassung und der sachlich unbegrenzten
Zulässigkeit der Verfassungsänderung, also auch der Kompetenzerwei-
terung nach Art. 78, gibt es keine Hoheitsrechte der Einzelstaaten,
welche jura singulorum bleiben müssen, die nach der Natur des
Reiches den Charakter der jura singulorum haben. Die jura singu-
lorum in dem hier entwickelten Sinne sind demnach keine jura quae-
sita, welche dem Einzelstaat nur mit seiner Zustimmung entzogen wer-
den könnten !).
Aber solange die Rechtssphäre des Reiches durch eine bestimmte
Linie abgegrenzt ist, kann jeder einzelne Staat verlangen, daß sich die
Reichsgewalt eines Uebergriffs in das jenseits dieser Linie liegende Ge-
biet enthalte. Dies gilt nicht nur von der verfassungsmäßig festge-
stellten Kompetenz, über welche hinaus auch die Reichsgesetzgebung
nicht sich erstrecken darf, ohne daß den Erfordernissen der Verfassungs-
änderung Rechnung getragen wird; sondern ebenso auch von der durch
gewöhnliche Reichsgesetze näher bestimmten Sphäre der Selbstver-
waltung und Landesgesetzgebung, welche der Bundesrat bei seinen Ver-
ordnungen und der Reichskanzler sowie alle übrigen Reichsbehörden
bei ihren Verfügungen respektieren müssen.
8 13. Die Existenz der Einzelstaaten.
Das Reich als Bundesstaat setzt nach dem von uns entwickelten
Begriff desselben autonome Staaten als Mitglieder voraus. Es entsteht
daher die Frage, inwieweit die Fortexistenz der einzelnen Staaten durch
die Reichsverfassung geboten oder gewährleistet ist. Bei der Beant-
wortung derselben ist aber zunächst die Fragestellung selbst näher zu
präzisieren, denn es kommen hier sehr verschiedene Gesichtspunkte in
Betracht, deren Vermengung eine richtige Beantwortung unmöglich
macht.
Man deduziert die verfassungsmäßige Garantie der Einzelstaaten
öfters aus dem Wesen des Bundesstaates und leitet daraus die Not-
wendigkeit einer Beschränkung der Reichskompetenz auf ein solches
Maß ab, daß für die Einzelstaaten noch Raum genug übrig bleibt, um
1) Im Gegensatz zu den Sonderrechten einzelner Staaten in dem sub II ent-
wickelten Sinne. Die zugunsten einzelner Staaten besonders festgesetzten Kompe-
tenzbeschränkungen des Reiches begründen zugleich jura quaesita und jura sin-
gularia. Es könnte auffallend erscheinen, daß gerade diese Hoheitsrechte mit einem
so viel wirksameren Schutz umgeben sind, als alle übrigen, zum Teil doch viel er-
heblicheren obrigkeitlichen Rechte derselben Staaten. Dies erklärt sich aber sehr
wohl. Bei jeder anderen Kompetenzerweiterung des Reiches wird allen Staaten
gleichmäßig eine Einbuße von Rechten zugemutet und es erscheint daher als ein
ausreichender Schutz, daß 14 Stimmen im Bundesrat imstande sind, sie abzulehnen;
bei der Aufhebung von Sonderrechten brauchen die anderen Staaten nur zuzustimmen,
daß Befugnisse, die sie selbst bereits dem Reiche abgetreten haben, nun auch dem
Sonderberechtigten entzogen werden.