Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

136 S 14. Begriff und staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. 
hängig von demselben sind sie Bürger des Gesamt- 
staates.« 
Diese Anschauung ist mit der Theorie vom Bundesstaat zu fast 
allgemeiner Herrschaft gelangt und die überwiegende Mehrzahl aller 
Schriftsteller über das Recht des Norddeutschen Bundes und des Deut- 
schen Reiches ist nicht nur darüber vollkommen einverstanden, daß 
es neben dem Staatsbürgerrecht ein davon begrifflich verschiedenes 
Reichsbürgerrecht oder Reichsindigenatgibt, sondern sie begründet auch 
gerade damit ihre Charakteristik des Reiches als eines Bundesstaates. 
Vgl. oben S. 78 ff. 
So wie aber an der Verfassung des Deutschen Reichs die bisherige 
Theorie vom Wesen des Bundesstaates überhaupt Schiffbruch leidet, 
so auch insbesondere in Beziehung auf das Reichs- und Staatsbürger- 
recht. Jeder Versuch, den Inhalt dieser beiden Bürgerrechte gegenein- 
ander abzugrenzen, erweist sich sofort und nach allen Richtungen hin 
als unmöglich; es gibt nicht zwei Sphären hinsichtlich des staatlichen 
Lebens, von denen die eine durch das Reichsbürgertum, die andere 
durch das Landesbürgertum ausgefüllt würde. Auf welches Gebiet 
staatlichen Lebens man auch den Blick richtet, fast nirgends kann man 
bestimmen, wo der einzelne Staatsbürger, wo er Reichsbürger ist; in 
der Regel ist er beides zugleich‘). 
In das entgegengesetzte Extrem verfällt Seydel. Er leugnet ganz 
das Vorhandensein eines Reichsbürgerrechts; in konsequenter Durch- 
führung seiner Grundanschauung, daß das Reich ein Staatenbund sei, 
nimmt er nur das einfache Untertanenverhältnis dem eigenen Staate 
gegenüber an. »Indem der einzelne der Bundesgewalt gehorcht, ge- 
horcht er ihr als der von seinem Staate bestellten Gewalt, er gehorcht 
seiner eigenen Staatsgewalt« ?). 
Das richtige Verhältnis des Staatsbürgerrechts zum Reichsbürger- 
recht ergibt sich aus dem von uns entwickelten Wesen des Bundes- 
staates. Der Bundesstaat ist ein zusammengesetzter Staat, dessen Mit- 
glieder die Einzelstaaten sind, die Bundesstaatsgewalt ist souveräne 
Gewalt über den Einzelstaaten. Die Einzelstaaten können nicht ge- 
trennt von ihrem Substrat, ihren Angehörigen, dem Reiche unterwor- 
fen sein, sondern natürlicherweise nur mit Land und Leuten. Die 
1) Auch die Formel, welche Gierke (bei Schmoller Bd. 7, S. 1163) aufstellt: 
„Man ist als Preuße mittelbarer und als Deutscher unmittelbarer Reichsangehöriger“, 
ist inhaltlos, denn man ist als Preuße immer zugleich Deutscher und man kann 
nicht Deutscher sein, ohne einem Gliedstaat anzugehören. Ganz falsch aber ist, wenn 
Gierke hinzufügt: „wie man als Berliner mittelbarer und als Preuße unmittelbarer 
Staatsangehöriger ist“. Man ist auch als Berliner unmittelbarer Staatsangehö- 
riger und die Gemeindeangehörigkeit ist von der Staatsangehörigkeit juristisch völlig 
klar und bestimmt verschieden. 
2) Kommentar S. 50; Bayerisches Staatsrecht I, S. 294. Die Ausführungen in 
der 1. Aufl. des Kommentars S. 43 ff. hat Seydel jetzt teilweise gestrichen oder 
geändert.
	        
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