8 14. Begriff und staatsrechtliche Natur der Reichsangehörigkeit. 137
Herrschaftsrechte des Reiches über die Staaten enthalten daher zu-
gleich Herrschaftsrechte über die Angehörigen dieser Staaten, gleichviel
in welcher Form sie geltend gemacht werden; die Pflichten, welche das
Reich den Einzelstaaten abgenommen hat, um sie selbst an ihrer Stelle
auszuüben, erfüllt es für die Angehörigen der Staaten. Die Bürger des
Einzelstaates haben daher gegen die Reichsgewalt Untertanenpflichten
und staatsbürgerliche Rechte. Weil der einzelne ein Angehöriger des
Staates Preußen oder Sachsen ist und weil der Staat Preußen und der
Staat Sachsen zum Reiche gehören und der Reichsgewalt unterworfen
sind, darum ist der Preuße und der Sachse ein Angehöriger des
Reichs und der Reichsgewalt untertan. Man braucht nur den oben
angeführten Satz von Waitz umzukehren und man erhält den voll-
kommen getreuen Ausdruck der Wahrheit. Die Angehörigen
eines Bundesstaates sind nicht unabhängigvon dem-
selben, sondern durch diesen Bürger des Gesamt-
staates. Der einzelne hat nicht zwei Staatsgewalten über sich,
welche einander nebengeordnet sind und von denen eine jede
einen Teil der obrigkeitlichen Rechte in sich schließt; sondern er hat
zwei Staatsgewalten über sich, welche einander übergeordnet sind.
Man kann das Reich einer Anzahl von Häusern vergleichen, über
welche eine gemeinsame Kuppel gewölbt ist; die Insassen wohnen nicht
teilweise unter dem Separatdach ihres Hauses und teilweise unter der
gemeinsamen Kuppel, sondern unter ‘beiden zugleich. Die Reichsan-
gehörigkeit ist keine selbständige Eigenschaft, sondern sie drückt mit
einem Worte zwei verbundene Eigenschaften aus, nämlich daß jemand
einem Staate angehört, welcher dem Reiche angehört. Die Reichsun-
tertänigkeit ist keine unmittelbare, sondern eine mittelbare; die Einzel-
staatsgewalt bildet das Medium!).
Die herrschende Theorie stützt sich vorzüglich darauf, daß die
Reichsgesetze ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von
Reichs wegen erhalten. Hierin erblicktman den Ausdruck der unmittel-
baren Herrschaft des Reiches über die Angehörigen ; während man eine
mittelbare Unterordnung nur dann annimmt, wenn eine landesgesetz-
liche Publikation hinzukommen muß, um den Bundesgesetzen Geltung
zu verschaffen. Es ist oben S. 80 ff. bereits gezeigt worden, daß diese
Beweisführung unhaltbar ist.
Der Erlaß des Reichsstrafgesetzbuchs, des Preßgesetzes, der Ge-
werbeordnung ist allerdings kein bloßer Beschluß, wie die Einzelstaa-
ten die Handhabung der Strafjustiz, des Preßwesens, des Gewerbe-
wesens gesetzlich zu normieren haben, ebensowenig aber eine Eman-
1) Diejenigen Schriftsteller, welche den Gliedstaaten eines Bundesstaates die
Eigenschaft als Staaten absprechen, müßten konsequenterweise auch die Möglichkeit
einer Staatsangehörigkeit leugnen und nur eine Reichsangehörigkeit an-
nehmen. Zu dieser, dem positiven Recht des Deutschen Reichs direkt widersprechen-
den Annahme erkühnt sich nur Le Fur, Etat federal S. 692 ff.