Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 20. Das Indigenat des Art. 3 der Reichsverfassung. 185 
Partikularrechte der einzelnen Staaten hervor, der zweite ent- 
hielt ein Verbot an die Einzelstaaten, eine Beschränkung ihrer Auto- 
nomie und Regierungsgewalt. Eine gemeinrechtliche Norm von po- 
sitivem, materiellem Inhalt enthält keiner derselben. Hätte man den 
richtigen Sinn des Art. 3 von Anfang an festgehalten, so würden viele 
der zahlreichen Zweifel, zu denen er Veranlassung gegeben hat, gar 
nicht entstanden sein. 
Es ist die Ansicht vertreten worden, daß der Art. 3 nur einen le- 
gislatorischen Grundsatz enthalte, der für den Richter nicht anwendbar 
sei, sondern erst durch Ausführungsgesetze anwendbar gemacht werden 
müsse). Dies ist unrichtig; der Art. 3 war kraft des ersten von uns 
entwickelten, in ihm enthaltenen Satzes sofort anwendbar; er hob in 
der Tat eine Reihe von Vorschriften aller deutschen Partikularrechte 
teilweise (nämlich in Ansehung der Angehörigen der übrigen Bundes- 
staaten) auf?). 
Aber ebensowenig hat der Art.3 die Verschiedenheit der 
einzelnen Partikularrechte hinweggeschafft und einheitliches, gleiches 
Recht an deren Stelle gesetzt; auch für den Angehörigen des Reiches 
waren Rechtsschutz und Rechtsverfolgung, Niederlassung und Gewerbe- 
betrieb nicht überall im Reich gleich geordnet, sondern er begegnete 
überall denjenigen Bedingungen und Beschränkungen, welche das 
Landesrecht aufstellte °). 
Es bleibt ferner für die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte 
im eigentlichen Wortsinne das Staatsbürgerrecht des betreffenden Staa- 
tes nach Maßgabe des Landesstaatsrechts Voraussetzung; der Art. 3 
1) „Diese Ansicht entwickelt ausführlich v. Groß im Gerichtssaal Bd. 19 (1867), 
S. 329 ff., bes. 340, und ein Erkenntnis des Appellationsgerichts zu Gotha 
inGoltdammers Archiv Bd. 16, S. 472. 
2) Z. B. die Verpflichtung der Ausländer, Kaution für Prozeßkosten zu er- 
legen, die Eigenschaft eines Ausländers als causa arresti, ferner namentlich die Zu- 
lässigkeit, Ausländer aus dem Lande zu verweisen. Vgl. die „usammenstel- 
lung der Streitfragen“, welche dem oben S. 184, Anm. erwähnten Ausschuß- 
bericht beigegeben ist, in Hirths Annalen II, S. 25fg. Auch die nur für Auslän- 
der begründeten besonderen Gerichtsstände waren für Reichsangehörige nicht mehr 
maßgebend. Urteil des Reichsoberhandelsgerichts Bd.2, S. 206 ff.; Bd.3, 
S. 395 ff.; Bd. 5, S. 3868; Bd. 12, S. 138 ff.; Bd. 15, S. 1 ff. Der in den Fürstentümern 
Schwarzburg bestehende Territorialretrakt wurde von den Landgerichten für 
aufgehoben erachtet (Hirths Annalen II, S. 28, Nr. 11); der in Mecklenburg 
bestehende Ortseinwohnerretrakt (ex jure incolatus) blieb von Art. 3 unberührt. Böh- 
lau, Heimatsrecht S. 28. Ueber die in das Privatrecht eingreifenden Fragen vgl. 
MandryS.53ff.; v. Roth, Deutsches Privatrecht I, 8 67, und Stobbe, Deut- 
sches Privatrecht (2. Aufl.) I, 843, S. 322 ff. Sie sind jetzt durch das BGB. meistens 
antiquiert. 
3) Eine Verteidigung der hier bekämpften Ansicht hat namentlich in Beziehung 
auf die strafprozessualen Kompetenzregeln versucht Spinola in Goltdammers Ar- 
chiv Bd. 20, S. 321 ff. Gegen ihn erklären sich mit ausführlicher Widerlegung seiner 
Gründe Schwarze und Francke ebendaselbst Bd. 21, S. 64 ff. und S. 73 ff. Die 
zahlreichen das Prozeßrecht betreffenden Fragen haben durch die Reichsjustizgesetze 
ihre Bedeutung verloren.
	        
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