Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

198 8 22. Gebietsveränderungen. 
S 22. Gebietsveränderungen*). 
I. Der Umfang des Bundesgebietes ist durch die Verfassung 
Art. 1 reichsgesetzlich bestimmt. Nach diesem Artikel gibt es kein 
Bundesgebiet, welches nicht einem Staate angehört. Der Artikel sagt: 
DasBundesgebietbestehtausdenStaaten Preußenu.s.w. 
Derselbe Grundsatz, der die Reichsangehörigkeit der Person von der 
Angehörigkeit zu einem Bundesstaat abhängig macht, gilt auch hin- 
sichtlich des Gebietes. Durch die Erwerbung von Elsaß-Lothringen 
ist auch in dieser Hinsicht eine Anomalie begründet, die im Zusam- 
menhange mit der staatsrechtlichen Stellung des Reichslandes erörtert 
werden muß. 
Der Art. 1 enthält aber auch noch ein anderes Prinzip. So wie 
jeder Angehörige eines Bundesstaates Reichsangehöriger ist, so ist 
das ganze Gebiet jedes Einzelstaates, welches ihm bei Gründung des 
Reiches zustand, Bundesgebiet. Es gibt nach Art. 1 kein Bundesgebiet, 
welches nicht Staatsgebiet, und kein Staatsgebiet der Bundesstaaten, 
welches nicht Bundesgebiet ist'). 
*, J. Sieskind, Zur Lehre von den Bedingungen und Formen, unter welchen 
der gegenwärtige Umfang des Deutschen Reichs erweitert und eingeengt werden 
kann, Berlin 1897. Vgl. auch Bruno Schmidt, Ueber einige Ansprüche auswärti- 
ger Staaten auf gegenwärtiges deutsches Reichsgebiet, Leipzig 189. Michelly, 
Der Gebietsstand des Deutschen Reichs 1904 (Leipz. Dissert.). 
1) Eigentümlich komplizierte Verhältnisse bestehen am Bodensee. Esistbe- 
stritten, ob derselbe im Kondominat der Uferstaaten steht, wie dies Rettich, Die 
völker- und staatsrechtlichen Verhältnisse des Bodensees, Tübingen 1884, S. 31 ff. aus- 
führlich entwickelt hat, und v. Sarwey, Württemb. Staatsrecht I, S. 25, und Sey- 
del, Bayer. Staatsrecht I, S. 335 u. a. annehmen, oder ob das Staatsgebiet der Ufer- 
staaten durch die „Mittellinie“ des Sees gebildet wird, wie dies v. Martitzin 
Hirts Annalen 1885, S. 278 ff. in sehr beachtenswerter Weise darzutun versucht, welche 
Auffassung seinen Angaben gemäß von schweizerischer Seite festgehalten wird. Vgl. 
auch v. Pözl, Bayer. Verfassungsrecht $ 22, Anm. 6, Gaupp-Göz, Württemberg. 
Staatsrecht S. 15, Note 6, Rehm im Handwörterbuch der Staatswissenschaften Bd. 2, 
S. 654 fg. und G. MeyerS 74, Note 6 Michelly S.76ff. Die Ansicht von O0. 
Mayer im Wörterbuch des Verw.-Rechts I, S. 214, daß die von der Meeresküste 
und dem Meer geltenden Regeln analog anzuwenden seien, gibt keine praktisch 
brauchbare Lösung der Frage, da man über den See vom deutschen Reichsgebiet aus 
bis in die Gebiete von Oesterreich und der Schweiz und vice versa mit Kanonen 
schießen kann. In jedem Falle unterliegen die Hoheitsrechte der drei deutschen Ufer- 
staaten am Seegebiet, mögen sie in der einen oder anderen Art zu bestimmen sein, 
denselben Beschränkungen durch die Gebietshoheit des Reiches wie das übrige Staats- 
gebiet derselben. Sollte in der Tat ein ungeteiltes Kondominat am Bodensee be- 
stehen, so würden das Deutsche Reich, die Schweizer Eidgenossenschaft und Oester- 
reich die Teilnehmer sein und innerhalb dieses Rechtsverhältnisses stände sowohl den 
an den See angrenzenden Schweizer Kantonen als den drei süddeutschen Uferstaaten 
eine beschränkte (nicht souveräne) Ausübung der Kondominatsrechte nach Maßgabe 
der schweizerischen bezw. deutschen Verfassung zu. Glücklicherweise sind die hieraus 
sich ergebenden Schwierigkeiten nur theoretischer Natur, dagegen praktisch ohne Be- 
lang, wie dies v. Martitz.a. a. O. anschaulich gezeigt hat.
	        
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