Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

S 22. Gebietsveränderungen. 201 
unmöglich sein. Wenn nach einem unglücklichen Kriege das Reich 
im Friedensschluß zur Abtretung von Bundesgebiet sich entschließt, so 
erklärt es eben dadurch, daß es seine Pflicht, das Bundesgebiet und alle 
zu ihm gehörenden Einzelstaaten zu schützen, nicht ferner erfüllen 
kann, oder daß es dieser Pflicht wegen der Größe der erforderlichen 
Opfer, wegen der Gefahr noch größerer Verlusfe oder aus anderen poli- 
tischen Erwägungen nicht weiter, als geschehen, nachkommen will!) 
Die höhere Gewalt, welche die Abtretung erzwingt und welche nicht aus 
dem rechtlichen Organismus des Reiches selbst stammt, sondern von 
außen an dasselbe herantritt, ist der Grund, wegen dessen der Staat, 
dessen Gebiet ganz oder teilweise abgetreten wird, diesen Unfall tragen 
muß. Es bedarf keiner Ausführung der politischen Nachteile, ja der 
Absurditäten, zu welchen der Satz führen würde, daß das Reich in 
keinem Friedensschlusse Gebietsteile eines Bundesstaates ohne dessen 
Zustimmung abtreten könne; es würde dies jedem Einzelstaat ein 
Recht darauf geben, in das eigene Unglück den Ruin und Untergang 
des ganzen Reiches hineinzuziehen. Die Reichsverfassung selbst schließt 
aber eine solche Annahme auch dadurch aus, daß sie im Art. 11, Abs.1 
dem Kaiser die Befugnis erteilt, „Frieden zu schließeng«, 
ohne dieser Befugnis irgend eine Einschränkung hinzuzufügen, als daß 
nach Abs. 3 in gewissen Fällen die Zustimmung des Bundesrates und 
die Genehmigung des Reichstages erforderlich ist?).. Der Schutz der 
Einzelstaaten liegt in diesem Falle nicht in einem formalen Rechtssatz, 
sondern in der tatsächlichen Solidarität der Interessen, da jede er- 
zwungene Abtretung von Bundesgebiet nicht bloß den Einzelstaat, zu 
dem es gehört, sondern ebenso schwer auch das Reich als Ganzes trifft. 
2. Die zweite Frage, ob es einem deutschen Staate verwehrt ist, 
außerdeutsches Gebiet ohne Zustimmung des Reiches zu erwerben, 
welches dem Reichsgebiet nicht einverleibt wird, ist ohne praktische 
Bedeutung. 
Zuzugeben ist, daß, obwohl die Reichsverfassung ein ausdrückliches 
Verbot nicht enthält, sowohl nach dem Art. 1 der Reichsverfassung 
als nach der bundesstaatlichen Natur des Reiches die Einverleibung 
von außerdeutschem Gebiet in einen deutschen Staat für nicht zulässig 
zu erachten ist, denn ein solcher Staat würde teilweise souverän und 
teilweise nicht souverän sein, was nicht möglich ist°.. Dagegen be- 
1) Vgl. Hartmann, Institut. des Völkerrechts S. 170. 
2) Uebereinstimmend v. Pözl, Bayer. Verfassungsrecht $ 23; Pröbsta.a.0O.; 
Prestelea a 0O.S. 12; Tinscha.a.0. 8.42; Gaupp-GözS. 16; G.Meyer 
8 164, Note 14; Hänell]l, S. 545; Sieskind S. 2lfg.; Anschütz S. 525; Mi- 
chelly S. 131fg.; A. A. Seydel, Kommentar S. 35 fg. und Bayer. Staatsrecht I, 
S. 839, Note 23, dessen Grund: „weil niemand abtreten kann, was ihm nicht gehört“, 
nur zutrifft, wenn man die Gebietshoheit des Reiches bestreitet; ferner Preuß 
S. 411, weil „politische Notwendigkeit kein Rechtsgrund sei“. Aehnlich Zorn], 
S. 102, Note 101. 
3) Anderer Ansicht Seydel]I, S. 340, Note 29; Kommentar S. 37 fg.; Sies-
	        
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