Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 24. Die staatsrechtliche Natur des Kaisertums. 217 
die kaiserlichen Rechte allein gar nicht vollständig gegeben ist; sie 
finden ihre notwendige Ergänzung in den Mitgliedschaftsrech- 
ten Preußens. Nur wenn man die Mitgliedschaftsrechte, welche Preu- 
ßen mit allen übrigen deutschen Staaten gemein hat, mit dem Sonder- 
recht, welches durch seine Präsidialbefugnisse gebildet wird, zusammen- 
nimmt, erhält man die volle Summe der dem Kaiser zustehenden 
Rechte und ein vollständiges Bild der Stellung des Kaisers im Reiche. 
Denkt man sich jemanden, der nicht zugleich Landesherr eines deutschen 
Staates, also nicht Mitglied des Reiches ist!), ausgestattet mit allen kai- 
serlichen Rechten der Reichsverfassung und der auf Grund derselben 
erlassenen Gesetze, so hat man ein Zerrbild des Kaisers, das in die 
Reichsverfassung nach keiner Richtung paßt. Denkt man sich den 
Landesherrn eines der kleineren Staaten mit den Präsidialbefugnissen 
ausgestattet, so könnte man formell juristisch die von dem Kaiser gel- 
tenden Grundsätze auf ihn zwar anwenden, tatsächlich und politisch 
betrachtet wäre das Kaisertum aber etwas durchaus verschiedenes von 
dem, was es wirklich ist. Nur dadurch, daß man die Präsidialbefug- 
nisse in untrennbaren Zusammenhang bringt mit den der Krone Preu- 
ßen zustehenden Mitgliedschaftsrechten, jadaß man das Recht 
aufdieAusübung dieserPräsidialbefugnissealsein 
zu diesen Mitgliedschaftsrechten akzessorisches 
Vorrecht (Sonderrecht) Preußens auffaßt, gewinnt man den 
staatsrechtlichen Begriff des Kaisers. Wenn nach Art. 5, Abs. 2 und 
Art. 37 »die Stimme des Präsidiums«, nach Art. 7, Abs. 3 »die Präsi- 
dialstimme« bei der Beschlußfassung des Bundesrats den Ausschlag 
gibt, wenn nach Art. 8 in jedem der dauernden Bundesratsausschüsse 
»das Präsidium« vertreten sein muß, so ist »Präsidium« und »Preußen« 
hier völlig identisch; es ist bei der schärfsten logischen Unterscheidung 
unmöglich, einen begrifflichen Unterschied zwischen der siebzehnfachen 
Stimme Preußens und der Präsidialstimme aufzustellen oder sie im 
Gegensatz zu einander zu denken (vgl. unten $& 28). 
Die wichtigste Konsequenz dieser Auffassung ist der Satz, daß die 
Ausübung der Mitgliedschaftsrechte Preußens und die Handhabung 
der kaiserlichen Präsidialbefugnisse unter keinen Umständen und in 
keinem Falle getrennt und an verschiedene Subjekte verteilt sein 
können. 
Es ergibt sich ferner, in welchem Sinne der oft wiederholte Satz 
richtig ist, der Kaiser sei den Bundesfürsten nicht übergeordnet, son- 
dern primus inter pares. Richtig ist dies nur hinsichtlich der Mit- 
gliedschaftsrechte, die der Kaiser neben den Präsidialrechten hat; diese 
stehen allen deutschen Staaten prinzipiell gleichmäßig zu; in Beziehung 
auf sie sind die Bundesfürsten — von den Sonderrechten abgesehen 
— pares und der König von Preußen als Landesherr des hervor- 
1) In dem oben S. 97 fg. entwickelten Sinne.
	        
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