234 8 27. Wesen des Bundesrates.
kömmlichen Theorie vom Bundesstaat vereinbar ist, noch in die
Schablone der konstitutionellen Monarchie paßt; und man hat ihn
andererseits als die kühnste und glücklichste Schöpfung des Gründers
des Norddeutschen Bundes bezeichnet, als die geistvollste Erfindung
seiner politischen Gestaltungskraft gerühmt'!). Beide Auffassungen sind
nicht begründet. Daß die Verfassung des Deutschen Reiches weder
der früher herrschenden Theorie vom Bundesstaat noch der doktrinä-
ren Form der konstitutionellen Monarchie entspricht, ist wahr, aber
kein Fehler; andererseits ist der Bundesrat bei der Gründung des Nord-
deutschen Bundes überhaupt nicht erdacht und erfunden worden,
sondern gleichsam von selbst entstanden, historisch gegeben gewesen.
Wenn für irgend ein Institut des jetzigen deutschen Reichsstaatsrechtes
die historischen Wurzeln klar erkennbar sind und für das juristische
Verständnis verwertet werden können, so ist es der Bundesrat?). «
Es ist hier daran zu erinnern, daß vor der Gründung des Nord-
deutschen Bundes die preußische Regierung die Reform des Deut-
schen Bundes durch Einfügung einer Volksvertretung, Abschaffung des
Prinzips der Einstimmigkeit und Erweiterung der Kompetenz angestrebt
hat. Dieser Gedanke wurde bei der Neugründung des Norddeutschen
Bundes festgehalten. Er führte von selbst zu den Grundlinien der
Organisation des letzteren, und diese Grundlinien waren schon vor der
Errichtung des Norddeutschen Bundes infolge des Augustbündnisses
verwirklicht, gleichsam provisorisch eingeführt. Die Kommissare der
deutschen Regierungen, welche im Winter 1866 in Berlin zusammen-
traten, um den Verfassungsentwurf zu beraten, bildeten zusammen ein
Kollegium, welches im wesentlichen dem alten Bundestagsplenum ent-
sprach, d.h. sie waren zu einem Kongreß vereinigte, nach Instruktionen
stimmende und beschließende Bevollmächtigte völkerrechtlich ver-
bundener Regierungen; das Präsidium und die Leitung der Geschäfte
fiel naturgemäß dem ersten Vertreter Preußens zu, und man hatte in
dem in Aussicht genommenen und im Februar 1867 zusammentreten-
den Reichstage das Zusammenwirken von Bundesrat und Reichstag
vor Augen. Man brauchte in der Tat keine Organisation zu erfinden,
Der alte Reichstag und der neue Bundesrat, 1906 (Abhandl. von Zorn u. Stier-Somlo
Bd. I, Heft 1); Löning, Grundzüge S. 55ff.; Anschütz, Enzykl. S. 540 ff.;
Meier, Erörterung in der Deutschen Juristenzeitung, 1911, S. 1 ff.
1) Unter den kritischen Beurteilungen des Bundesrates sind aus der wissen-
schaftlichen Literatur hervorzuheben : v. Martitz, Betrachtungen S. 45fg.; Thu-
dichum, Verfassungsrecht S. 118fg.; Meyer, Grundzüge S. 102 fg. und in Hirths
Annalen 1876, S. 666; Seydel, Kommentar S. 136; v. Mohl, Reichsstaatsrecht
Ss. 239 fg.; Westerkamp S. 97 fg., 110 fg., 153 fg.; v. Held, Verfassung des Deut
schen Reichs, S. 103—118; Rösler, Gedanken über den konstitutionellen Wert der
Reichsverfassung, Rostock 1877, S. 16 fg. — Die Schrift von August Winter:
Der Bundesrat und die Reichsoberhausfrage (Tübingen 1872) halte ich für durchweg
verfehlt.
2) Grade im Gegensatz hierzu nennt ihn v. Mohl S. 228, 230 „eine ganz eigen-
tümlich kühne Schöpfung“ und eine „proles sine matre creata“.