268 & 29. Der Bundesrat als Organ des Reiches.
Sodann entscheidet der Bundesrat über Beschwerden gegen Ent-
scheidungen des Reichsversicherungsamtes, durch welche Genossen-
schaftsstatuten die Genehmigung versagt wird, sowie auf Antrag des
Reichsversicherungsamtes über die Auflösung von Berufsgenossen-
schaften, welche zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Pflichten leistungs-
unfähig werden ').
Hinsichtlich der Zuerkennung von Pensionen weist das Reichs-
beamtengesetz, 8$ 39, 51, 52, 68 dem Bundesrate eine Beschlußfassung
zu, welche ebenfalls hierher gerechnet werden kann. Insbesondere
aber bestimmt $ 66 des erwähnten Gesetzes, daß die definitive Ent-
scheidung über die zwangsweise Versetzung eines Reichsbeamten in
den Ruhestand bei denjenigen Beamten, welche keine kaiserliche Be-
stallung erhalten, vom Bundesrate, bei denjenigen, welche eine
kaiserliche Bestallung erhalten, vom Kaiser im Einvernehmen
mitdem Bundesrate erfolgt?).
Insbesondere bestimmt 8 23 des Konsulargerichtsbarkeitsgesetzes
vom 7. April 1900 (Reichsgesetzbl. S. 218), daß die im Verwaltungs-
streitverfahren zu treffenden Entscheidungen für die Konsulargerichts-
bezirke in erster und letzter Instanz von dem Bundesrat erlassen werden.
2. Auch der nach Art. 19 der Reichsverfassung dem Bundesrate
zustehende Beschluß, daß gegen ein Bundesglied die Exekution voll-
streckt werden soll, ist eine richterliche Sentenz, indem er ein Ur-
teil darüber enthält, daß das Bundesglied seine verfassungsmäßigen
Bundespflichten nicht erfüllt hat?. Es kann die Bundesexekution
nicht anders als ein Akt der Administrativjustiz aufgefaßt werden, die
dem Reich gegen die Einzelstaaten als notwendiges Korrelat der den
Einzelstaaten gewährten, umfassenden Selbstverwaltung zusteht. Siehe
oben S. 112.
3. Gemäß Art. 77 der Reichsverfassung bildet der Bundesrat die
oberste Rekursinstanz, wenn in einem Bundesstaate der Fall einer
Justizverweigerung eintritt‘. Ueber eine Beschwerde dieser Art hat
der Bundesrat lediglich nach Rechtsgrundsätzen zu entscheiden und
zwar ist ihm im Art. 77 zur Pflicht gemacht, »die Beschwerde nach
1) Reichsgesetz vom 6. Juli 1884, 8 20 und 33 (Reichsgesetzbl. S. 79, 84).
2) Materiell entscheidet also auch hier der Bundesrat. Daß der Form nach der
Kaiser entscheidet, ist unerläßlich wegen des von ihm unterzeichneten Anstellungs-
patentes.
3) Vgl. Seydel, Jahrbuch S. 287 ff.; Kommentar S. 189. Die hier aufgestellte
Unterscheidung, ob der Streit sich um das Recht oder um den Tatbestand dreht, kann
ich aber nicht als begründet anerkennen; die Entscheidung des Bundesrates betrifft
sowohl die Rechtsfrage als auch die Tatfrage. Vgl. auch G. Meyer $ 212, Anm. 14.
4) Der Artikel ist wörtlich gleichlautend mit dem Art. 29 der Wiener Schlußakte,
mit der alleinigen Abänderung, daß statt „Bundesversammlung“ Bundesrat gesetzt
worden ist. In die Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde er auf Antrag des
Abgeordneten Wiggers aufgenommen. Vgl. Stenogr. Bericht des verfassungsber. Reichs-
tages 1867, S. 672. Ueber den Art. 29 cit. sind zu vergleichen Klüber, Oeffentl.
Recht, $ 169; Zöpfl1L,8 156; Zachariä J, 8 281; Hänell, S. 736 ff.