Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 29. Der Bundesrat als Organ des Reiches. 269 
der Verfassung und den bestehenden Gesetzen des betreffenden Bundes- 
staates zu beurteilen«'). Desgleichen ist die Würdigung der Frage, ob 
die in der Beschwerde vorgebrachten Tatsachen erwiesen sind, eine 
richterliche. Mit dem vom Bundesrate gefällten Urteile, daß der 
Fall verweigerter oder gehemmiter Rechtspflege vorliege, verbindet sich 
dann die weitere Funktion, bei der Bundesregierung, die zu der Be- 
schwerde Anlaß gegeben hat, »die gerichtliche Hilfe zubewirkenc«. 
Durch die reichsgesetzliche Ordnung der Gerichtsverfassung hat der 
Art. 77 für das Gebiet der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit seine 
praktische Bedeutung verloren. 
4. Nach Art. 76, Abs. 1 der Reichsverfassung ist der Bundesrat 
berufen, »Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten, sofern 
dieselben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompeten- 
ten Gerichtsbehörden zu entscheiden sind, auf Anrufen des einen Teiles 
zu erledigen«. Er ist in den von diesem Artikel berührten Fällen an 
die Stelle der Austrägalinstanz des ehemaligen Bundes _ getreten ?). 
Wenngleich dem Bundesrate keinerlei Vorschriften gegeben sind über 
die Art der Erledigung staatsrechtlicher Streitigkeiten unter den Bundes- 
gliedern und sein Bestreben naturgemäß auf Herbeiführung eines 
Vergleiches gerichtet sein wird, so ist doch das äußerste und definitive 
Mittel der Erledigung ein Richterspruch, der zwangsweise vollstreckt 
werden kann. Der Art. 76, Abs. 1 ist so weit gefaßt, daß er es dem 
Bundesrate überläßt, ob er den Richterspruch, falls ein gütlicher Ver- 
gleich nicht gelingt, selbst fällen will, oder ob er ein Gerichtskollegium, 
eine Juristenfakultät oder andere Sachverständige mit der Fällung des 
Urteils betrauen will?). Aber auch wenn der Bundesrat den letzteren 
Weg wählt, bildet er die eigentliche Instanz; das Kollegium, welchem 
er die Entscheidung der Streitfrage aufträgt, hat keine eigene Kompe- 
tenz, sondern erstattet nur ein sachverständiges Gutachten, welches 
1) Es steht dabei dem Bundesräte frei, sich das Gutachten eines Gerichtshofes 
oder anderer Sachverständiger erteilen zu lassen. 
2) Art. 76, Abs. 1 der Reichsverfassung beruht auf Art. 11, Abs. 4 der Bundes- 
akte vom 8. Juni 1815. 
3) Vgl. die Erklärung des Bundeskommissars v. Savigny im verfassungsbera- 
tenden Reichstag von 1867, S. 664, und die Bemerkungen des Abgeordneten Dr. Za- 
chariä ebendaselbst S. 670. Vgl. ferner Thudichum S. 110; Zornl, S. 171; 
Meyer 8 212, Anm. 8; Hänel, Staatsr. I, S. 575. Dagegen hält Seydel, Kom- 
mentar S. 405fg. und in v. Holtzendorffs Jahrbuch S. 289 die Entscheidung durch den 
Bundesrat selbst für ausgeschlossen; ebenso Arndt S. 287. Wie sich diese Schrift- 
steller für ihre Ansicht ebenfalls auf die Verhandlungen im verfassungsberatenden 
Reichstage berufen können, ist nicht zu verstehen. v. Savigny erklärte gegen den 
Antrag auf Einsetzung eines Bundesgerichts zur Entscheidung staatsrechtlicher Streit- 
fragen, daß durch den Art. 76 die Erledigung „auch durch Verweisung auf Austrä- 
galinstanz“ vorausgesehen sei. undZachariä betonte, daß im Gegensatz zum Recht 
des deutschen Bundes „es hier lediglich in das Ermessen des Bundesrats gestellt 
sei, ob er einen solchen Rechtsweg herbeiführen will.
	        
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