Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 29. Der Bundesrat als Organ des Reiches. 271 
» Verfassungsstreitigkeiten !) in solchen Bundesstaaten, in deren 
Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitig- 
keiten bestimmt ist, hat auf Anrufen eines Teiles der Bundesrat 
gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege 
der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen.« 
Nach diesem Artikel ist die Berechtigung des Bundesrates zur 
Einmischung in die Verfassungsstreitigkeit in einem Einzelstaat davon 
abhängig gemacht, daß einer der streitenden Teile ihn anruft. Es ist 
aber zweifellos, daß, wenn die Verfassungsstreitigkeit dahin führen 
sollte, daß die Regierung des Bundesstaates ihre Bundespflichten nicht 
erfüllt, insbesondere wenn sie verhindert wird, die Matrikularbeiträge 
zu entrichten oder für die Handhabung der Reichsgesetze Sorge zu 
tragen, der Bundesrat aus eigenem Entschluß auf Grund des Art. 19 
einschreiten kann. Unter »Verfassungsstreitigkeiten« sind nur Streitig- 
keiten zwischen der Regierung eines Bundesstaates und den Land- 
ständen zu verstehen. Es folgt dies daraus, daß Art. 76, Abs. 2 
auf Art.1 des Bundesbeschlusses vom 30. Oktober 1834 beruht, welcher 
die Einsetzung eines Schiedsgerichts zur Entscheidung von Streitig- 
keiten zwischen einer Regierung und den Ständen anordnete. Man 
dachte vorzüglich an Streitigkeiten über das Budgetrecht. Die Zuständig- 
keit erstreckte sich aber auch auf andere Streitigkeiten über die Aus- 
legung, Ausführung und Aufhebung von Verfassungsbestimmungen ?). 
In allen Fällen aber, in denen die Verfassungsstreitigkeit das Ver- 
hältnis des Einzelstaates zum Reich nicht berührt, sondern eine innere 
Angelegenheit des ersteren bleibt, ist das Reich nur kompetent, wenn 
es angerufen wird. So lange das Staatsrecht) des betreffenden Bundes- 
gliedes selbst die Mittel zu einer rechtlichen Lösung des Streites bietet, 
ist die Intervention des Reiches ausgeschlossen. Ebenso wenn die 
streitenden Teile auf Schiedsrichter sich einigen. Das Reich tritt nur 
subsidiär zur Lösung des Konfliktes ein. 
U, 8 279. Art. 1 dieses Bundesbeschlusses ist daher für die Auslegung des Art. 76, 
Abs. 2 cit. von Bedeutung. 
1) Nicht jede Behauptung, daß ein Gesetzgebungs- oder Verwaltungsakt einer 
Bundesregierung verfassungswidrig sei, begründet eine Verfassungsstreitigkeit. 
Mit Recht ist in dem Protokoll des Bundesrates 1874, 8 94 (S. 70) hervorgehoben, 
„daß die von einer Korporation (im konkreten Falle: der Magistrat der Stadt 
Rostock) aufgestellte Behauptung, daß ein von den verfassungsmäßigen Faktoren der 
Landesgesetzgebung vereinbartes Gesetz der Landesverfassung nicht entspreche, eine 
Verfassungsstreitigkeit im Sinne des Art. 76, Abs. 2 überhaupt nicht begründe‘“. 
2) Meyer, Staatsr. $ 212, Note 12 beschränkt den Begriff der Verfassungs- 
streitigkeiten nicht auf Streitigkeiten zwischen Regierung und Volksvertretung, son- 
dern dehnt ihn auch auf Thronstreitigkeiten aus. Ebenso v. Rönne I, S.220; Thu- 
dichum S. 60; HänelS.568; Bornhak, Thronfolge im Fürstentum Lippe S. 65; 
teilweise auch Kekule v. Stradonitz im Archiv für öffentl. Recht XIV, S. 22. 
Vgl. über diese Frage unten S. 250 fg. 
3) Der Art. 16 sagt „Verfassung“; es braucht dies aber nicht gerade die „Ver- 
fassungsurkunde* oder das Verfassungsgesetz zu sein.
	        
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