272 8 29. Der Bundesrat als Organ des Reiches.
Zunächst ist es nun Sache des Bundesrates, den gütlichen Aus-
gleich zu versuchen. In den Verhältnissen ist es gegeben, daß der
Bundesrat seinen Einfluß vorzüglich auf die Regierung auszuüben im-
stande ist; in sehr viel geringerem Grade auf die Landesvertretung.
Doch ist die Bedeutung der Tatsache, daß der Bundesrat entweder
vollständig oder wenigstens bis zu einer gewissen Linie auf der Seite
der Regierung steht, auch für die von der Landesvertretung einzu-
nehmende Haltung nicht zu unterschätzen.
Wenn der Versuch gütlicher Ausgleichung nicht gelingt, so hat
der Bundesrat im Wege der Reichsgesetzgebung, also im Einverständnis
mit dem Reichstage, die Streitigkeit zu erledigen. Daraus, daß die
Form der Gesetzgebung vorgeschrieben ist, folgt keineswegs, daß die
Entscheidung nicht materiell die Bedeutung eines Richterspruches
habe. Es muß im Gegenteil als ein ideelles Postulat eines solchen
Gesetzes aufgestellt werden, daß es das bestehende Recht deklariert.
Denn es handelt sich um »Erledigung von Verfassungsstreitigkeiten«,
d. h. von Rechtsstreitigkeiten, und die Organe des Reiches treten nur
dann in Funktion, wenn nicht verfassungsmäßig eine Behörde zur
Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist, sie haben also offenbar
eine Aufgabe, wie sie einer solchen Behörde obliegt, d. h. eine richter-
liche. Es lassen sich auch wohl Fälle von Verfassungsstreitigkeiten
denken, in denen das Recht so zweifellos ist, daß Bundesrat und
Reichstag übereinstimmend es zur Geltung bringen.
Der »Weg der Gesetzgebung« gestattet aber ganz anderen Motiven
als juristischen und ganz anderen Erwägungen als richterlichen einen
sehr erheblichen Einfluß!., Bundesrat und Reichstag haben andere
Aufgaben im Reich zu erfüllen, als Recht zu sprechen, und sind deshalb
auch in einer Weise eingerichtet, die am wenigsten auf die Bedürfnisse
der Rechtspflege berechnet ist. Die Bundesratsmitglieder stimmen
nach Instruktionen, die Reichstagsmitglieder unter dem Einfluß politi-
scher Anschauungen und Tendenzen. Wenn zwei solche Körper-
schaften, von denen keine ihrer allgemeinen Anlage nach geeignet ist,
die Rolle eines Gerichtshofes zu übernehmen, sich zu einem überein-
stimmenden Votum vereinigen müssen, um die Entscheidung eines
Rechtsstreites zu finden, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese
Entscheidung lediglich nach Rechtsgrundsätzen erfolgen werde, keine
sehr große.
Die Reichsverfassung verlangt auch nicht, daß diese Entscheidung
eine, der Sache nach, richterliche sein müsse.
Die »Erledigung« der Verfassungsstreitigkeit kann auch erfolgen
durch Veränderung der Verfassung oder durch Außerkraftsetzung des
bestehenden Verfassungsrechts für den einzelnen Fall?).. Die im Art. 2
1) Vgl. v. Martitz, Betrachtungen etc. S. 29ff.; Seydel, Jahrbuch S. 291;
ferner Binding in der Deutschen Jur.-Zeit. 1899, S. 721g.
2) „Es ist dies der Punkt, wo die Reichsgewalt am tiefsten in den Kreis der