284 8 30. Die formelle Erledigung der Geschäfte des Bundesrates.
1. Veränderungen der Verfassung sind abgelehnt, wenn
sie 14 Stimmen gegen sich haben. Art. 78, Abs. 1'). Daß in diesem
Artikel unter »Verfassung« nur die Verfassungsurkunde, nicht der
gesamte Verfassungszustand des Reichs zu verstehen ist, unterliegt
keinem Zweifel; ebenso unzweifelhaft ist es, daß alle in gesetzlichem
Wege erfolgten Veränderungen der Verfassungsurkunde ebenfalls nur
unter Berücksichtigung der im Art. 78 Abs. 1 aufgestellten Regel ge-
ändert werden können. Aber auch ein Gesetz, welches formell den
Wortlaut der Verfassungsurkunde unverändert läßt, materiell aber eine
Abänderung ihres Inhaltes bewirkt, kann die Sanktion nur erhalten,
wenn sich im Bundesrat nicht 14 Stimmen gegen dieselbe erklären,
da sonst die Bestimmung des Art. 78 Abs. 1 völlig wirkungslos und
illusorisch wäre. Siehe unten $ 55. Die Vorfrage, ob der Gesetzes-
vorschlag eine Veränderung der Verfassung enthält oder nicht, wird
durch diese Vorschrift nicht berührt; denn diese Vorfrage betrifft
nicht eine Abänderung, sondern eine Auslegung der Verfassung. Sie
wird daher durch einfache Mehrheit entschieden ?).
2. In einer Anzahl von Fällen genügt die Mehrheit der Stimmen
nur dann zur Fassung eines Beschlusses, wenn in dieser Mehrheit die
Präsidialstimme, d. h. die Stimme Preußens, enthalten ist. In diesen
Fällen besteht nicht, wie man gewöhnlich sagt°), ein Veto des Kaisers
gegenüber einem Bundesratsbeschluß, sondern es liegt die Annahme
eines Vorschlages von seiten des Bundesrates überhaupt nicht vor‘).
Trotzdem sich die Mehrheit für den Vorschlag erklärt hat, ist der
Vorschlag von dem Bundesrat verworfen worden, weil die Annahme
desselben an die zweifache Vorausseztung gebunden ist, daß die Mehr-
heit der Stimmen sich dafür erklärt und daß in dieser Mehrheit die
preußischen Stimmen enthalten sind°). Dieses zweifache Erfordernis
ist durch die Verfassung aufgestellt in folgenden Fällen ®):
a) Bei Beschlüssen über Gesetzesvorschläge, welche Aende-
rungen in den bestehenden Einrichtungen des Militärwesens und der
Kriegsmarine herbeiführen ?).
des (materielles) Erfordernis. Vgl. oben S. 248, Note 2. Uebereinstimmend Seydel,
Jahrbuch S. 283. Anderer Ansicht v. Mohl S. 236.
1) Dieser Grundsatz ist, wie oben S. 281 erwähnt worden ist, auch in der Rev.
Geschäftsordnung 8 16 angenommen worden hinsichtlich der Anträge auf Abweichungen
von der geschäftsordnungsmäßigen Frist für die zweite Lesung.
2) Ebenso Hänel, Studien I, 258fg.; v. Rönne II, 1, S.35; Meyer 8163,
Anm. 10 u. a. Anderer Ansicht HiersemenzelS. 9 und Seydel, Kommentar
S. 146.
3) So z.B.v. Martitz, Betrachtungen S.42; Hiersemenzell,S. 39, Note 6;
RiedelS. 28, 97;v.RönneS. 154 (1. Aufl.).
4) Vgl. Meyer, Grundzüge S. 69, Erörterungen S. 5l; Westerkamp S. %.
5) Korrekt ist die Fassung des 8 6 der Rev. Geschäftsordnung des Bundesrates.
6) Reichsverf. Art. 7, Abs. 3.
7) Reichsverf. Art. 5, Abs. 2.