Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

294 8 32. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. 
Eine besondere Untersuchung erfordert allein die Frage, welchen 
Einfluß der bundesstaatliche Charakter des Reiches auf die 
Institution des Reichstages ausübt. Es wäre an und für sich möglich 
gewesen, das für die Bildung des Bundesrates maßgebende Prinzip auf 
den Reichstag insofern anzuwenden, daß die Bevölkerungen der Einzel- 
staaten Abgeordnete wählen, welche im Reichstage zwar zu einem ein- 
heitlichen Kollegium sich vereinigen, welche aber nicht das deutsche 
Volk als Gesamtheit, sondern das Volk der einzelnen Staaten, in denen 
sie gewählt sind, zu vertreten haben. Auf diesem Gedanken beruhte 
der in dem österreichischen Reformprojekt von 1863 enthaltene Vor- 
schlag einer sogenannten Delegiertenversammlung. Schon damals hob 
der Bericht des preußischen Staatsministeriums vom 15. September 
1863 hervor, daß eine solche Versammlung »auf die Vertretung von 
Partikularinteressen, nicht von deutschen Interessen hingewiesen ist« 
und »daB das Spiel und Widerspiel dynastischer und partikularistischer 
Interessen sein Gegengewicht und sein Korrektiv in einer wahren, aus 
direkter Beteiligung der ganzen Nation hervorgehenden Nationalver- 
tretung finden muß«!). 
Derselbe Gesichtspunkt wurde bei den preußischen Reformvor- 
schlägen von 1866 entschieden betont und festgehalten und er hat in 
der norddeutschen Bundesverfassung einen klaren und unzweideutigen 
Ausdruck in Art. 29 gefunden: 
»Die Mitglieder des Reichstages sind Vertreter des gesamten 
Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.« 
Bei der Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Deutschen 
Reiche wurde dieser Charakter des Reichstages zwar beibehalten und 
der Art. 29 deshalb unverändert gelassen, es wurde aber zu Art. 28 
der Zusatz beigefügt: 
Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche 
nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen 
Bunde gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur derjeni- 
gen Mitglieder gezählt, die in Bundesstaaten gewählt sind, wel- 
chen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist. 
Diese Bestimmung war analog der im Art. 7, Abs. 4 über den Bun- 
desrat getroffenen Anordnung. Während die letztere aber mit dem 
Wesen des Bundesrates, der aus Vertretern der einzelnen Bundesglie- 
der besteht, vollkommen übereinstimmt?) stand Art. 28, Abs. 2 im 
schärfsten Widerspruch mit dem Wesen des Reichstages, dessen Mit- 
glieder nach Art. 29 nicht Vertreter der Bevölkerungen einzelner 
Staaten, sondern des gesamten Volkes sind°). Da die. logische Inkon- 
1) Hahn, Zwei Jahre preußisch-deutscher Politik, S. 60. 
2) Ganz und gar verkannt wird dieser Unterschied von Westerkamp S. 108, 
109, Note. 
3) Dies wurde sehr richtig hervorgehoben vom Abgeordneten Freiherrn v. Ho- 
verbeck und dem Abgeordneten Hirsch im Norddeutschen Reichstage von 1870, 
II. Sess. Stenogr. Ber. S. 123, 124.
	        
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