Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 32. Allgemeine Charakteristik des Reichstages. 297 
dung, daß die Mitglieder des Reichstages Vertreter des gesamten Volkes 
sind, ist vielmehr ausschließlich ein politischer. Der Ausdruck will 
sagen: Der Reichstag ist dasjenige Organ, durch welches der Anteil 
der Reichsangehörigen an den Willensentschlüssen und der Lebens- 
tätigkeit des Reiches vermittelt und ausgeübt wird. Außer dem Kaiser 
und Bundesrat hat das Reich noch ein drittes Organ, durch welches 
jeder einzelne (wahlberechtigte) Reichsangehörige auf die Politik 
des Reiches mittelbar einen Einfluß ausüben kann, indem er nach 
den Regeln des Wahlgesetzes bei der Zusammensetzung dieses Organes 
persönlich mitzuwirken befugt ist. Mit dieser Befugnis ist sein Recht 
aber erschöpft, mag er von ihr bei der anberaumten Wahl Gebrauch 
gemacht haben oder nicht. Nur bei der Bildung des Reichstages 
hat das Volk, d. h. die Gesamtsumme aller einzelnen wahlberechtigten 
Reichsangehörigen, eine rechtliche Mitwirkung am staatlichen Leben 
des Reiches; es ist bei jeder Wahl nur ein einmaliger Akt, durch 
welchen der Reichsangehörige sein politisches Recht betätigt. Als 
unjuristisch muß dagegen die Auffassung bezeichnet werden, daß das 
Volk durch den Reichstag als seine Vertretung fortlaufend einen 
Anteil an den Staatsgeschäften des Reiches ausübt. Sowie die Wahl 
erfolgt ist, hört jeder Anteil, jede Mitwirkung, jeder rechtlich relevante 
Einfluß des »gesamten Volkes«, d.h. aller einzelnen Reichsangehörigen, 
auf die Willensentschlüsse des Reiches auf. Der Reichstag ist innerhalb 
seiner Zuständigkeit ebenso selbständig berechtigt wie der Kaiser; er 
ist in keinem anderen Sinne Vertreter des gesamten Volkes als so, wie 
auch der Kaiser es ist. Nur die Berufung erfolgt in verschiedener 
Weise; die Berufung zum Kaisertum ist allen menschlichen Willens- 
entschlüssen entzogen, die Berufung zum Reichstage erfolgt durch 
Willenshandlungen aller einzelnen (wahlberechtigten) Reichsangehörigen. 
Die philosophisch-historisch-politische Betrachtung mag sich daran 
halten, daß das »Volksethos«, »der lebendig wirkende Nationalgeist«, 
»das sittliche Bewußtsein des Volkes« durch den Reichstag zum Aus- 
druck kommen; die juristische Bestimmung des Wesens des Reichs- 
tages darf nicht durch die irreführende Bezeichnung Volksvertretung 
beeinflußt werden, sondern man muß festhalten, daß der Reichstag nur 
in dem Sinne und nur deshalb eine Volksvertretung heißt, weil jeder 
einzelne Reichsangehörige, der den Erfordernissen des Wahlgesetzes 
genügt, an der Bildung dieses Organs des Reiches sich zu beteiligen 
vermag. Oder mit anderen Worten: eine Volksvertretung ist der 
Reichstag nicht mit Rücksicht auf seine Rechte und Pflichten, sondern 
nur mit Rücksicht auf seine Bildung und Zusammensetzung. Der 
Reichstag leitet seine Befugnisse nicht aus dem Willen der Wähler, 
sondern unmittelbar aus der Verfassung und den Gesetzen des 
Reichs ab; sie stehen ihm im vollen Umfange zu, auch wenn er sich 
im offenen Widerspruch mit der im Volk herrschenden Stimmung 
befindet; der Reichstag ist nicht ein Repräsentant oder Delegatar irgend
	        
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