Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

$ 33. Die Zuständigkeit des Reichstages. 305 
In einer anderen Kategorie von Fällen ist der Reichstag nicht bloß 
berechtigt, sondern zugleich verpflichtet, den ihm erstatteten Bericht 
zu prüfen und, wenn er keine Ausstellungen gegen denselben zu erhe- 
ben hat, der Regierung das Anerkenntnis gesetzmäßiger, ehrlicher und 
ordentlicher Verwaltung auszusprechen, indem er ihr »Entlastung er- 
teilt«. Insbesondere bestimmt Art. 72 der Reichsverfassung, daß über 
die Verwendung aller Einnahmen des Reiches durch den Reichskanzler 
dem Bundesrate und dem Reichstage zur Entlastung jährlich Rech- 
nung zu legen ist. Ebenso ist von der Reichsschuldenkommission 
dem Reichstage bei dem jährlichen regelmäßigen Zusammentritt Be- 
richt zu erstatten über ihre Tätigkeit sowie über die Ergebnisse der 
unter ihre Aufsicht gestellten Verwaltungen und auf Grund dieses Be- 
richtes hat der Reichstag, wenn er keine Einwendungen zu erheben 
hat, den betreffenden Verwaltungen für die im Bericht erörterten Rech- 
nungen Entlastung zu erteilen‘). Auch in anderen Fällen ist der Re- 
gierung die Pflicht zur Rechenschaft mit dem korrespondierenden 
Recht auf Entlastung gesetzlich auferlegt worden ?). 
IV. Außer den Berichten, welche dem Reichstage von den Reichs- 
behörden zu erstatten sind, ist demselben ein Mittel der Kontrolle der 
Reichsverwaltung durch den Art. 23 der Reichsverfassung gegeben, 
indem er befugt ist, an ihn gerichtete Petitionen dem Bundesrate resp. 
Reichskanzler zuüberweisen?) Es liegt in dieser Ueberweisung 
21. Oktober 1878, Abs. 2 (Reichsgesetzbl. S. 357), über die Verhängung des sogenann- 
ten kleinen Belagerungszustandes. Reichsgesetz vom 26. Juni 1878, Abs. 1 (Reichs- 
gesetzbl. S. 129), über die Tabaksteuerenquete. Unfallversicherungsges. $ 111 (Reichs- 
gesetzbl. 1900 S. 627), Rechnungsergebnisse der Berufsgenossenschaften. Reichsgesetz 
vom 6. April 1885, $ 3 (Reichsgesetzbl. S. 85) u. 1. Februar 1890, $ 2 (Reichsgesetzbl. 
S. 19), Verträge über die Postdampfschiffsubventionen. Gewerbeordnung von 1900, 
8 105d, 105g, 114a, Abs. 6, 120e, 139a, Abs. 5, 139b, Abs. 3, 154, Abs. 5. Gesetz über 
den unlauteren Wettbewerb vom 27. Mai 1896, $ 5, Abs. 3 (Reichsgesetzbl. S. 147). 
Gesetz über das Auswanderungswesen vom 9. Juni 1897, 8 36 (Reichsgesetzbl. S. 470). 
Reichsschuldenordnung $ 1, 17, Abs. 2. Ges. v. 30. März 1892, $ 2 (Reichsgesetzbl. 
S. 369). Ges. v. 30. Juni 1900 (Seuchenabwehr), $ 47 (Reichsgesetzbl. S. 317). See- 
mannsordn. v. 2. Juni 1902, 8 4 (Reichsgesetzbl. S. 176). 
1) Vgl. das Nähere unten bei der Darstellung des Finanzrechts. 
2) Reichsgesetz vom 2. Juli 1873, 8 4 (Reichsgesetzbl. S. 186), Kriegskostenent- 
schädigung. Reichsgesetz vom 25. Mai 1873, 8 10 (Reichsgesetzbl. S. 115); Reichsge- 
setz vom 30. Mai 1873, Art. VII (Reichsgesetzbl. S. 125); die „Entlastung“ wird in 
diesen Gesetzen als „Genehmigung“ bezeichnet. 
3) Man spricht deshalb sehr häufig von einem „Petitionsrecht“, welches allen 
Deutschen auf Grund ihrer Reichsangehörigkeit züstehe; z. B. Thudichum S. 523; 
G. Meyer, Grundzüge S. 116, Staatsr. 8 223; v. Rönne L,S.185ff.; Arndt, Kommen- 
tar S. 184 (4. Aufl); Riedel S. 48; E. Meier in v. Holtzendorffs Rechtslex. III, S. 40 fg. 
und besonders v. Mohl in der Tübinger Zeitschrift f. Staatswissenschaft 1875, Bd. 31, 
S. 99 ff. Allein abgesehen davon, daß das „Recht zu petitionieren“ ein „natürliches“ 
Recht von ähnlichem Inhalte ist wie das Recht, Briefe zu schreiben oder Lieder zu 
singen, ist der Reichstag nach Art. 23 keineswegs darauf beschränkt, Petitionen von 
Reichsangehörigen entgegenzunehmen. Auch Ausländer sind durch nichts gehindert, 
bei dem Reichstag Petitionen einzureichen, und der Reichstag ist nach Art. 23 befugt,
	        
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