306 8 33. Die Zuständigkeit des Reichstages.
zugleich ein Urteil über die Berechtigung der vorgelegten Bitte und,
wenn diese Bitte tatsächlich auf die Darlegung von Handlungen oder
Unterlassungen der Reichsbehörden gestützt ist, eine vom Reichstage
gefällte Kritik über das Verfahren der letzteren. Daher gewährt der
Art. 23 ein konstitutionelles Recht des Reichstages, Verletzungen der
Gesetze seitens der Reichsverwaltung oder der Staatsbehörden auf dem
den Einzelstaaten überlassenen Gebiete der Selbstverwaltung zu rügen
und tatsächliche Uebelstände oder Mängel, welche Abhilfe erfordern,
in amtlicher Weise zu erörtern. Den staatsrechtlichen Inhalt des
»Petitionsrechts« bildet nicht die Befugnis der einzelnen, sich an den
Reichstag mit einer Bitte zu wenden, sondern die Befugnis des Reichs-
tages zur Ueberweisung der an ihn gerichteten Petitionen an die Re-
gierungsorgane des Reiches. Wenngleich der vom Reichstage gefaßte
Beschluß weder unmittelbar Abhilfe schaffen kann, noch für die ande-
ren Organe des Reiches und die Verwaltungsbehörden der Staaten for-
mell bindend ist, so verleiht doch das im Art. 23 der Reichsverfassung
anerkannte Recht dem Reichstage gewissermaßen die Stellung eines
öffentlich-rechtlichen Rügegerichts den Verwaltungs-
behörden gegenüber.
V. Die eigentlich staatsrechtlichen Befugnisse des Reichstages in-
bezug auf die Tätigkeit des Reiches sind durch die im Vorstehenden
aufgezählten Rechte erschöpft. Hinzuzufügen bleibt nur noch, daß die
Ausübung dieser Befugnisse des Reichstages den anderen Reichsorga-
nen gegenüber dadurch gesichert ist, daß dem Reichstage die Regelung
seiner eigenen, inneren Angelegenheiten zusteht. Nach Art. 27 der
Reichsverfassung hat der Reichstag die Befugnis:
1. Die Legitimation seiner Mitglieder zu prüfen und darüber zu
entscheiden ;
2. durch eine Geschäftsordnung seinen Geschäftsgang und seine
Disziplin zu regeln ;
3. seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer zu
wählen.
4. Hierzu kommt noch das im Gesetz vom 31. März 1873, 8 156
auch sie dem Bundesrate oder Reichskanzler zu überweisen. Das Recht, beim Deut-
schen Reichstage zu petitionieren, wäre daher, wenn überhaupt ein Recht, kein Recht
der deutschen Reichsbürger, sondern aller „Weltbürger“. Auch hat der Petent keinen
Anspruch, daß seine Petition im Plenum des Reichstags verhandelt wird. Gesch.Ordn.
& 28, Ziff. 3 und noch viel weniger, daß sie dem Bundesrat oder Reichskanzler über-
wiesen wird. v. Jagemann S. 129. Nur von einem Rechte des Reichstages
in dem im Text entwickelten Sinne kann man sprechen, wenn man nicht „Recht“ jede
Tätigkeit nennen will, welche nicht verboten ist. — Dieser Auffassung schließt sich
an Seydel, Annalen S. 358, Note 1 und Kommentar (2. Aufl.) S. 203. Vgl. auch v.
Gerber über öffentliche Rechte, S. 79, Note 1 und Grundzüge S. 386; M. Wagner
in Hirths Annalen 1906, S. 43; Bornhak im Arch. f. öff. R. Bd. 16, S. 404fg. An-
derer Ansicht Stoerk, Method. S. 63; Jellinek, System S. 131. Ueber die Be-
handlung der Petitionen siehe Perels, Auton. Reichstagsrecht S. 41, 66 ff. und be-
sonders Wagnera..a. O. S. 130 ft.