308 $ 33. Die Zuständigkeit des Reichstages.
ser Befugnis ist in unzähligen Fällen Gebrauch gemacht worden. Eine
Interpellation unterscheidet sich von einer solchen Anfrage aber da-
durch, daß sie einen Gegenstand betrifft, der nicht anderweitig zur
Verhandlung steht, daß sie einen besonderen Punkt der Tagesordnung
bildet. Es kann nun nicht jedem einzelnen Mitgliede des Reichstages
frei stehen, beliebige Gegenstände zur Sprache zu bringen und die
Zeit und Arbeitskraft des Reichstages in Anspruch zu nehmen. Eine
Garantie gegen willkürliche und unangemessene Interpellationen und
einen Schutz der Geschäftsökonomie hat der Reichstag deshalb durch
die Bestimmung gesucht, daß die Interpellation von 30 Mitgliedern
unterzeichnet sein und dem Präsidenten des Reichstages bestimmt
formuliert überreicht werden muß; sowie, daß eine Besprechung des
Gegenstandes nur dann stattfindet, wenn mindestens 50 Mitglieder
darauf antragen. Die Geschäftsordnung begründet demnach kein
Recht des Reichstages oder der Reichstagsmitglieder'), was sie ja
überhaupt nicht vermag, sondern sie legt den Mitgliedern des Reichs-
tages eine Schranke auf, die Zeit des Reichstages durch Fragen an
die Regierung zu verbrauchen und die Erledigung der dem Reichstage
obliegenden Geschäfte zu verzögern. Diese im Interesse der Geschäfts-
ordnung gezogenen Beschränkungen geben aber der Stellung von In-
terpellationen an den Reichskanzler keinen positiven Rechtsinhalt.
Ueberdies ist noch hervorzuheben, daß niemals vom Reichstage als
solchem, sondern immer nur von einem oder mehreren einzelnen
Reichstagsabgeordneten interpelliert wird. Die Stellung eines Antrages
bei Gelegenheit einer Interpellation ist in der Geschäftsordnung $ 33
ausdrücklich für unzulässig erklärt, folglich kann auch keine Beschluß-
fassung stattfinden. Niemals übt daher der Reichstag, auch wenn sich
an die Interpellation eine Besprechung anschließt, eine staatsrecht-
liche Funktion aus?)
2. Von dem Recht, Adressen an den Kaiser zu richten?), gilt im
wesentlichen dasselbe. Es besteht keine Pflicht des Kaisers, auf die
Adresse eine Antwort zu erteilen oder sie überhaupt auch nur entgegen
zu nehmen‘). So groß die politische Bedeutung einer Adresse des
1) Dieser Irrtum findet sich z. B. bei v. Rönne I, S. 268.
2) Hatschek, Das Interpellationsrecht (Leipz. 1909), empfiehlt, daß sich an
die Erörterung der Interpellation eine Resolution des Reichstags (eine sogen. Tages-
ordnung) anschließe, durch welche der Reichstag seine Billigung oder Mißbilligung
des Verhaltens des Reichskanzlers, sein Vertrauen oder Mißtrauen, nach französ. Vor-
bild ausspreche; d.h. sie als ein Mittel zur Stürzung eines der jeweiligen Reichstags-
majorität nicht genehmen Reichskanzlers gebrauchen könne. Vgl. darüber meine
Erörterungen in der D. Jur.-Zeitung 1909, S. 677fg. Dahin zielende Anträge auf Ab-
änderung der Gesch.-Ordn. des Reichstags sind in der Session v. 1909/1910 gestellt
worden. Vgl. den Bericht der verstärkten Kommission f. d. Gesch.-O. Drucksachen
1909/10 Nr. 514.
3) Riedel S. 36 unter 6d; v. Rönne I, S. 268fg.; v. Mohl S.336; Meyeh
Erörter. S. 50; Wagnera.a. O.S. 139 fg.
4) Nach der preußischen Verfassung Art. 81, Abs. 1 hat jede Kammer