Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 34. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. 315 
II. Die Wählbarkeit. 
Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, welcher einem zum Bunde ge- 
hörigen Staate seit mindestens einem Jahr angehört hat!). Da nicht 
die Ausübung der Funktionen eines Abgeordneten, sondern die Wähl- 
barkeit in Frage steht, so ergibt sich, daß die einjährige Frist von dem 
Tage des Wahlaktes an zu berechnen ist, nicht von dem Tage des Zu- 
sammıentritts des Reichstages oder gar der Wahlprüfung an, und daß 
die Wahl Jemandes, der zurzeit derselben den Bedingungen des $ 4 
des Wahlgesetzes nicht entsprochen hat, nachträglich durch Ablauf der 
einjährigen Frist nicht gültig wird. Erforderlich ist nur die Reichs- 
angehörigkeit, nicht Aufenthalt oder Wohnsitz im Bundesgebiet. Da- 
her sind auch die in den Schutzgebieten sich aufhaltenden Reichs- 
angehörigen wählbar ’?). | 
Außer dem Erfordernis einjähriger Reichsangehörigkeit hat die 
Wählbarkeit ganz dieselben Voraussetzungen wie das Wahlrecht. Hier 
wird es daher von praktischer Wichtigkeit, ob jemand (nach S 3 des 
Wahlgesetzes) von der Berechtigung zum Wählen ausgeschlossen ist, 
oder ob diese Berechtigung nur ruht oder nicht ausgeübt werden kann. 
Die im 83 aufgeführten Klassen von Personen sind nicht wählbar, da 
sie nicht wahlberechtigt sind; wohl aber die Personen des stehenden 
Heeres sowie die zurzeit der Wahl von ihrem Wohnsitz abwesenden 
oder in den Listen übergangenen Wahlberechtigten. 
Eine Beschränkung der Ausübung der Funktionen eines Reichs- 
tagsmitgliedes und mithin eine indirekte Beschränkung der Wählbar- 
keit ist durch die Bestimmung des Art. 9 der Reichsverfassung, daß 
niemand gleichzeitig Mitglied des Bundesrates und des Reichstages 
sein kann, gegeben. Zwar ist die Wahl eines Bundesratsmitgliedes 
zum Abgeordneten an sich gültig, der Gewählte kann sie aber nur an- 
nehmen, wenn er aus dem Bundesrate ausscheidet; also nicht die 
Wählbarkeit der Bundesratsmitglieder ist verneint, sondern die Mit- 
gliedschaft im Reichstag ist unvereinbar mit der Mitgliedschaft im 
Bundesrat (sogenannte Inkompatibilität. Auch der Reichskanzler ist 
wählbar, kann die Wahl aber nur annehmen, wenn er sein Amt 
niederlegt, da der Reichskanzler notwendig Mitglied des Bundesrates 
sein muß?). 
Für nicht wählbar muß man dagegen die Landesherren der 
deutschen Staaten erachten, da sie die Vollmachtgeber der Bundesrats- 
mitglieder sind, abgesehen von dem in der allgemein konstitutionellen 
Theorie begründeten Bedenken, ob die deutschen Landesherren als 
—_ 
  
1) Wahlgesetz & 4. 2) Schutzgebietsgesetz $ 9, Abs. 2. 
3) Daher sind die Stimmzettel, welche auf den Reichskanzler oder ein anderes 
Bundesratsmitglied lauten, nicht für ungültig zu erachten. Uebereinstimmend 
SeydelS. 366, Note 4; G. Meyer 8 129, Note 5. Eine unrichtige Entscheidung 
der Wahlprüfungskommission des Reichstages in den Drucksachen desselben 1879. 
Bd. 6, S. 1520.
	        
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