Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

& 34. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. 317 
Demnach beträgt die Gesamtzahl der Reichstagsabgeordneten 397 '). 
4. In der Reichsverfassung selbst ist das Prinzip, nach welchem 
sich die Gesamtzahl der Abgeordneten und ihre Verteilung auf die 
Einzelstaaten ergibt, nicht sanktioniert worden; es ist formell kein 
Verfassungsrecht, sondern einfaches Gesetzesrecht, und kann daher 
ohne die erschwerenden Vorschriften des Art. 78, Abs. 1 verändert 
werden. Das Wahlgesetz selbst macht im $ 5, Abs. 3 den Vorbehalt, 
daß eine Vermehrung der Zahl der Abgeordneten infolge der steigen- 
den Bevölkerung durch das Gesetz bestimmt wird. Diese Befugnis ist 
selbstverständlich und bedurfte keines Vorbehaltes; es sollte dadurch 
nur hervorgehoben werden, daß die Vermehrung der Bevölkerung 
nicht ipso jure, also ohne Gesetz, eine Steigerung der Anzahl der in 
den Einzelstaaten zu wählenden Abgeordneten mit sich bringt. Aber 
nicht nur eine Vermehrung, sondern auch eine Herabsetzung oder 
anderweitige Verteilung der Anzahl der Abgeordneten kann durch ein 
(einfaches) Reichsgesetz angeordnet werden. Hieran hat sich auch 
durch den Art. 20, Abs. 2 der Reichsverfassung, der lediglich eine Er- 
gänzung des $ 5, Abs. 2 des Wahlgesetzes ist, nichts geändert; denn 
derselbe enthält ausdrücklich die Klausel: »Bis zu der gesetzli- 
chen Regelung, welche im $ 5 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 
1869 vorbehalten ist«?), erklärt sonach für seine Abänderung die 
Voraussetzungen der Verfassungsänderung für nicht erforderlich. 
5. Die auf die einzelnen Staaten entfallenden Zahlen von Abge- 
ordneten bilden nicht den Gegenstand von Sonderrechten (jura singu- 
laria); sie sind vielmehr lediglich das Ergebnis der Anwendung eines 
allgemeinen Prinzips®). Zu einer Aufhebung oder Veränderung dieses 
Prinzips ist daher nicht die individuelle Zustimmung der einzelnen 
Staaten erforderlich, auch nicht der im Art. 20, Abs. 2 aufgeführten 
vier süddeutschen Staaten. Reichsverfassung Art. 78, Abs. 2 ist hierauf 
nicht anwendbar‘). Dagegen ist in dem Prinzip der Gleichberechti- 
gung aller Mitglieder des Reiches der Satz enthalten, daß nicht einem 
oder einigen Staaten ohne ihre Zustimmung diejenige Anzahl von Ab- 
geordneten geschmälert werden kann, welche sich für sie aus der 
gleichmäßigen Anwendung des allgemeinen Prinzips ergibt °). 
1) Die mißlungene Fassung des Art. 20, Abs. 2, welcher nur die Zahlen der in 
den süddeutschen Staaten zu wählenden Abkeordneten anführt und trotzdem hinzu- 
fügt: „und beträgt demnach die Gesamtzahl der Abgeordneten 382“ und seine tat- 
sächliche Unrichtigkeit seit der Ausdehnung der Reichsverfassung auf Elsaß-Lothringen 
ist von mir schon bei anderer Gelegenheit hervorgehoben worden. Hirths Annalen 
1874, S. 1512, Note 1. 
2) Einen ähnlichen Vorbehalt enthält das Gesetz vom 25. Juni 1873, 83 hinsicht- 
lich der auf Elsaß-Lothringen kommenden Anzahl. 
3) Noch viel weniger passen sie unter den Begriff der jura singulorum im eigent- 
lichen Sinne, wie er oben S. 127 fg. entwickelt worden ist. 
4) Vgl. oben S. 121. 
5) Siehe oben S. 116 und Hirths Annalen 1874, S. 15l4 fg.
	        
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