8 34. Die Bildung des Reichstages. Das Wahlrecht. 335
mit der Sammlung der Zettel oder einer anderen Verrichtung bei dem
Wahlgeschäfte beauftragt ist, so tritt Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren
ein. Auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt
werden. $ 108'). Unter der Herbeiführung eines unrichtigen Ergeb-
nisses der Wahlhandlung ist nach dem Wortsinn und der Entstehungs-
geschichte dieser Gesetzesbestimmung nicht zu verstehen eine unbe-
fugte Ausübung des Wahlrechts, namentlich seitens eines Wählers der
zu Unrecht in die Wählerliste eingetragen ist, sondern die Fälschung
des Wahlergebnisses nach Maßgabe der tatsächlich abgegebenen Stimm-
zettel.e Dies ist die in der Theorie anerkannte und in der früheren
Praxis des Reichsgerichts befolgte Ansicht. Das Reichsgericht hat aber
durch mehrere Entscheidungen neuerdings seine Ansicht geändert und
die Strafdrohung auch auf den Fall angewendet, wenn jemand ohne
Anwendung von Täuschungsmitteln beim Wahlakt in bewußter Weise
ein materiell nicht bestehendes Wahlrecht ausübt, z. B. wenn er gleich-
zeitig in zwei Wahllisten eingetragen ist, das Stimmrecht doppelt
ausübt ?).
d\) Wer in einer öffentlichen Angelegenheit ein Wahlrecht kauft
oder verkauft?) wird mit Gefängnis von einem Monat bis zu zwei
Jahren bestraft, auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte
erkannt werden. $ 109°).
Alle nicht unter diese vier Kategorien fallenden Handlungen, wel-
che eine Beeinflussung der Wähler bezwecken, sind, sofern sie nicht
gegen die allgemeinen Strafgesetze verstoßen, erlaubt’). Die Freiheit
1) Vgl. v. Mohl, Krit. Bemerkungen S. 57fg.; Drenkmanna.a.0O.; John
a.2.0.8.87ff.; Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch zu 8108; Binding
a. a. O. S. 827 ff.
2) Urteile v. 11. Juli u. 8. Nov. 1904 u. 7. Febr. 1905 (Entsch. in Strafs. Bd. 37,
S. 234, 239, 297). Siehe auch M. E.Mayera.a.0.S. 279ff. Vgl. dagegen die Aus-
führungen (von Olshausen) im Arch. f. öffentl. R. Bd. 20, S. 285 ff.
3) Die zivilrechtlichen Begriffe des Kaufs und Verkaufs kommen hier nicht zur
Anwendung Drenkmanna. a. O.S. 178; JohnS. 89; Oppenhoff, Strafge-
setzbuch Note 3 zu $ 109; Schwarze, Kommentar zum Strafgesetzbuch zu $ 109;
Olshausen Notel und Note 4ff. zu8 109; Freudenthal, Die Wahlbestechung,
Bresl. 1896. Anders Binding a.a. 0. S. 832ff.; siehe aber die treffende Wider-
legung seiner Behauptungen bei M. E. Mayera.a. 0. S. 2851g.
4) Vgl. v. Mohla.a. S. 61fg.
5) Dahin gehört namentlich die Verbreitung von Lügen; die Erregung phantasti-
scher Hoffnungen; die Versicherung, daß die Wahl eines bestimmten Kandidaten Gott
wohlgefällig sei, die eines anderen Krankheiten und Mißernte u. dgl. Unglücksfälle
als Strafen Gottes herbeiführen werde; Bedrohung mit Verlust der Kundschaft oder
mit Dienstentlassung oder mit Kündigung von Pachtverträgen u. dgl. Alles dies mag
man tadeln und beklagen, man muß es aber als Konsequenz des allgemeinen Wahl-
rechts mit hinnehmen. Andere zu beeinflussen und sich von ihnen beeinflussen zu
lassen, ist ein „unantastbares Menschenrecht“, welches freilich in den Katalogen der
„natürlichen Rechte“ oder „Grundrechte* gewöhnlich übergangen wird. Das Wahl-
gesetz hat durch die Vorschriften über das Wahlverfahren äußere Schutzmittel
dafür geschaffen, daß der Wahlberechtigte so stimmen kann, wie er will; die Motive
aber, durch welche sein Wille bestimmt wird, sind rechtlich nicht von Belang.