Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

344 8 36. Formelle Ordnung der Reichstagsgeschäfte. 
aufgelöst, so müssen innerhalb eines Zeitraumes von sechzig Tagen 
nach der Auflösung die Neuwahlen stattfinden, und innerhalb eines 
Zeitraumes von neunzig Tagen nach der Auflösung muß der Reichstag 
versammelt werden). Die Wirkung der Auflösung besteht darin, daß 
dadurch die sogenannten Reichstagsmandate erlöschen, d. h. daß die 
durch die Wahlerfolgte Berufung zum Reichstagsmitgliede ein Ende findet. 
Die Auflösung kann daher auch erfolgen, wenn der Reichsta 
nicht versammelt ist?) Ist derselbe versammelt, so hat die Auflösung 
ipso jure und mit Notwendigkeit die Schließung desselben zur Folge; 
denn es gibt von dem Moment der Auflösung an keine Reichstags- 
mitglieder mehr, bis durch die Neuwahlen wieder solche ernannt 
werden. Es folgt hieraus zugleich, daß der einmal aufgelöste Reichstag 
nicht nochmals einberufen werden kann). 
& 36. Formelle Ordnung der Reichstagsgeschäfte. 
Die Reichsverfassung hat über die Art und Weise, wie der Reichstag 
seine Geschäfte zu erledigen habe, nur zwei Bestimmungen getroffen, 
die eine im Art. 22 über die Oeffentlichkeit der Verhandlungen, die 
andere im Art. 28 über die Beschlußfassung. Im übrigen ist durch 
den Art. 27 ausgesprochen, daß der Reichstag seinen Geschäftsgang 
und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung regelt und seinen 
Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer erwählt. Die 
formelle Ordnung der Geschäftsbehandlung unterliegt daher im wesent- 
lichen der statutarischen Feststellung des Reichstages. Daraus folgt 
einerseits, daß weder der Bundesrat noch die Reichsregierung ein 
Mitwirkungs- und Einspruchsrecht bei Feststellung der Geschäfts- 
ordnung haben, sondern das Belieben des Reichstages allein entscheidet; 
andererseits, daß die Geschäftsordnung nur die Mitglieder des Reichstages 
selbst verpflichtet und unter ihnen statutarisches Recht erzeugt, 
aber keine Rechtssätze sanktionieren kann, denen über den Kreis der 
Reichstagssession hinaus in irgend einer Beziehung Kraft und Wirkung 
zukäme. Namentlich darf man die Geschäftsordnung nicht paralleli- 
sieren mit einer Verordnung des Kaisers oder Bundesrates *); bei der 
letzteren handelt es sich um eine Betätigung der Reichsgewalt, um die 
Ausübung eines staatlichen Hoheitsrechts, die einem Organe des Reiches 
delegiert ist; bei der Feststellung der Geschäftsordnung des Reichstages 
1) Reichsverfassung Art. 25. 
2) Ein nach der Auflösung neugewählter Reichstag kann aber, wie Seydel, 
Kommentar zu Art. 25 richtig bemerkt, nicht aufgelöst werden, ehe er zum ersten- 
male versammelt war. 
8) Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Thudichum S. 165, 166. Gegen den- 
selben erklären sich auch Seydel, Kommentar S. 205; Zorn], S. 221, Note 17; 
G. Meyer S$ 130, Note 5. 
4) Dies tut ausdrücklich v. Mohl, Krit. Bemerkungen etc. S. 12.
	        
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