348 8 36. Formelle Ordnung der Reichstagsgeschäfte.
Dadurch ist der Stichentscheid des Präsidenten ausgeschlossen; im
Falle der Stimmengleichheit ist der Antrag abgelehnt!').
b) »Zur Gültigkeit der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der
Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder erforderlich.« Die
»gesetzliche Anzahl« ist, gleichviel, ob Sitze erledigt sind oder nicht,
3972). Beschlußfähig ist der Reichstag daher nur, wenn mindestens
199 Mitglieder anwesend sind. Abgeordnete, welche sich der Abstim-
mung enthalten, sind mitzuzählen; erforderlich ist nur, daß sie wäh-
rend der Abstimmung im Sitzungssaal anwesend sind. Die Anwesen-
heit einer so großen Anzahl von Mitgliedern braucht aber nicht bei
jeder Beschlußfassung festgestellt zu werden; die Beschlußfähigkeit
wird in allen Fällen präsumiert, in denen nicht durch Auszählung
oder namentliche Abstimmung das Gegenteil festgestellt wird. Nur zur
Beschlußfassung, nicht zu Verhandlungen des Reichstages ist die An-
wesenheit einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern erforderlich. De-
batten können daher fortgesetzt werden, selbst wenn die Beschluß-
unfähigkeit des Hauses konstatiert ist°). Nach der Observanz des Reichs-
1) Geschäftsordnung $ 5l a. E. Auf Wahlen, die der Reichstag vorzunehmen
hat, finden diese Bestimmungen keine Anwendung. Sie können nach relativer Stim-
menmehrheit erfolgen, z. B. die Wahl der Schriftführer, und bei Stimmengleichheit
entscheidet das Los. Geschäftsordnung $ 10. Für die Wahl der Mitglieder der Reichs-
schuldenkommission ist absolute Stimmenmehrheit vorgeschrieben BReichsschulden-
ordn. 8 13, Abs. 1. Wenn ein Mitglied für die Sitzung ausgeschlossen (vgl. S. 341,
Note 1) und seine Stimme für die Beschlußfassung maßgebend war, so muß die Ab-
stimmung in der nächsten Sitzung wiederholt werden, sofern der Beschluß nicht
Fragen der Geschäftsordnung betraf. Reichstagsbeschluß vom 16. Februar 189.
2) Siehe oben S. 316 fg.
3) Vgl. v. Mohl, Zeitschrift für Staatswissenschaft Bd. 31, S. 94 fg.; v. Rönne
I, S. 258 fg.; Seydel, Annalen S. 423, Kommentar S. 210; PerelsS.75ff. Die
Konstatierung der Beschlußfähigkeit erfolgt nur, wenn vor einer Abstimmung in-
folgeeinerdarüber gemachten Bemerkung der Präsident oder einer
der fungierenden Schriftführer darüber zweifelhaft ist. Geschäftsordnung $ 54. Wird
keine Bemerkung gemacht, d. h. hat keine Fraktion ein Interesse an der Verschie-
bung der Abstimmung, so schreitet das Haus zur Beschlußfassung, auch wenn der
Augenschein es jedem unzweifelhaft macht, daß die beschlußfähige Anzahl der Mit-
glieder nicht anwesend ist. In den Zeitungsberichten wird dies sehr häufig unum-
wunden konstatiert. Allesolche Beschlüsse sind und bleiben ver-
fassungswidrig. An der bestimmten Vorschrift des Art. 28 der Reichsverfas-
sung kann weder durch die Geschäftsordnung noch durch die parlamentarische Praxis
etwas geändert werden; aus Zweckmäßigkeitsgründen kann sich der Reichstag von
der Befolgung der Verfassung nicht dispensieren; auch nicht unter stillschweigender
Zustimmung der Reichsregierung. Anderer Ansicht Rieker in Frankensteins Vier-
teljahrsschrift für Staats- und Volkswirtschaft Bd. 4, S. 266. An der Befolgung der
Verfassungsvorschrift über die Beschlußfähigkeit des Reichstages hat nicht nur die
Reichsregierung, sondern auch das Volk ein rechtliches und politisches Interesse.
Es müßte zu unerhörten Konsequenzen führen, wenn Verfassungsgrundsätze und andere
Gesetze durch stillschweigende Uebereinstimmung von Reichstag und Reichsregie-
rung für einzelne Anwendungsfälle nach Belieben außer Kraft gesetzt werden
könnten.