Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

350 $ 36. Formelle Ordnung der Reichstagsgeschäfte. 
Verhandlung zurückzuweisen und zur Ordnung zu rufen'). Im Falle 
gröblicher Verletzung der Ordnung kann das Mitglied durch den Präsi. 
denten von der Sitzung ausgeschlossen werden. Leistet derselbe der 
Aufforderung des Präsidenten zum Verlassen des Saales keine Folge, 
so kann der Präsident die Sitzung suspendieren oder schließen. Gegen 
den Ordnungsruf oder die Ausweisung kann das Mitglied schriftlich 
Einsprache erheben, worauf der Reichstag in der nächstfolgenden 
Sitzung darüber ohne Diskussion entscheidet, ob der Ordnungsruf ge- 
rechtfertigt ist?). 
Vor der Abstimmung stellt der Präsident die Fragen; jedoch kann 
das Wort darüber begehrt werden, und im Falle eines Widerspruchs 
gegen die vom Präsidenten formulierte Fragestellung beschließt der 
Reichstag darüber; unmittelbar vor der Abstimmung läßt der Präsident 
die Frage verlesen; er stellt im Verein mit den Schriftführern das Er- 
gebnis der Abstimmung fest und verkündet dasselbe ?). 
Der Verkehr zwischen dem Reichstage und dem Reichskanzler 
vermittelt der Präsident; soll eine Adresse dem Kaiser durch eine 
Deputation überreicht werden, so ist der Präsident der alleinige Wort- 
führer der Deputation ®). 
Der Präsident hat endlich über die Annahme und Entlassung des 
für den Reichstag erforderlichen Verwaltungs- und Dienstpersonals zu 
beschließen). Die Anstellung desselben erfolgt nicht auf seinen An- 
trag durch den Kaiser oder den Reichskanzler, sondern sie erfolgt durch 
den Reichstagspräsidenten selbst, welcher zugleich die vorgesetzte Be- 
hörde ist‘). Auch über die im Etat ausgeworfene Summe für die Aus- 
gaben zur Deckung der Bedürfnisse des Reichstages steht dem Präsi- 
denten die Verfügung zu, und er ernennt für die Dauer seiner Amts- 
führung zwei Reichstagsmitglieder zu »Quästoren« für das Kassen- und 
Rechnungswesen ?). 
4. Die Behandlung aller dem Reichstage gemachten Vorlagen des 
Bundesrates und derjenigen von Mitgliedern gestellten Anträge), welche 
Gesetzentwürfe enthalten, besteht der Regel nach in drei, durch 
feste Fristen von einander getrennten und in ihrer Bedeutung ver- 
schiedenen Beratungen ?). 
1) Geschäftsordnung $ 42 ff. Sehr ausführliche Erörterungen darüber bei v. Mohl 
a.8.0.S. 64—80, woselbst eine förmliche Theorie des „Rechts zu sprechen“ ent- 
wickelt ist. Vgl. PerelsS. 86 ff. 
2) Geschäftsordnung $ 60. Fassung nach dem Beschluß des Reichstags vom 
16. Februar 1895 und $ 61. 
3) Geschäftsordnung $ 51, 54-59. 
4) Geschäftsordnung $ 13, 66, 67, 68. 5) Geschäftsordnung 8 14. 
6) Gesetz vom 18. Mai 1907, 8 156 (Reichsgesetzbl. S. 278). 
7) Geschäftsordnung 8 14, 16. 
8) Alle von Reichstagsmitgliedern ausgehenden Anträge müssen von mindestens 
15 Mitgliedern unterzeichnet sein. Geschäftsordnung $ 22, Abs. 1. 
9) Ueber die zahlreichen, in der Praxis des Reichstages hervorgetretenen Zweifel 
und Streitfragen vgl. Seydel, Annalen S. 427 fg.; Perels S. 45 ff.
	        
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