374 8 39. Begriff und System der Reichsbehörden.
Nach der Reichsverfassung gibt es nur einen einzigen Be-
amten dieser Art, den Reichskanzler; das Prinzip der Zentrali-
sation ist in der strengsten Art durchgeführt. Denn nach dem Art. 17
bedürfen alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers zu ihrer
Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher da-
durch die Verantwortlichkeit übernimmt. Da nun der
Kaiser für sämtliche Geschäftszweige des Reiches die oberste Spitze
bildet und für alle Anordnungen und Verfügungen desselben die
Gegenzeichnung des Reichskanzlers erforderlich ist, so ergibt sich, daß
der Reichskanzler der einzige und alleinige Minister des Kaisers ist,
und daß es kein Ressort der Reichsverwaltung gibt, dessen oberster
Chef nicht der Reichskanzler wäre. Der Reichskanzler hat unter allen
Beamten des Reichs keinen Kollegen sondern nur Gehülfen und
eventuell Stellvertreter (siehe unten $ 40).
Eine Durchbrechung hat dieses Prinzip der Reichsverfassung jedoch
erfahren durch das Reichsgesetz vom 4. Juli 1879, $ 2 hinsichtlich des
kaiserlichen Statihalters in Elsaß-Lothringen. Vgl.
darüber Bd. 2, 8 68.
Unter den dem Reichskanzler untergeordneten Reichsbehörden
sind aber — ganz ebenso wie unter den den Ministern der Einzelstaaten
untergeordneten Landesbehörden — zwei von einander sehr verschie-
dene Arten zu unterscheiden, nämlich Behörden für die Verwaltung
und Behörden für die Rechtsprechung.
Den Gegensatz zwischen diesen beiden Arten von Behörden in Be-
ziehung auf den Behördenorganismus kann man dahin formulieren,
daß die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers rücksichtlich der Ver-
waltungsbehörden einen positiven, rücksichtlich der rechtsprechenden
Behörden einen negativen Inhalt hat.
Bei den ersteren erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers auf den materiellen Inhalt ihrer Verfügungen und Anordnungen.
Er kann daher in wichtigen Angelegenheiten materiell selbst entschei-
den und bestimmen, was geschehen soll. Die Reichsbehörden sind
gewissermaßen nur seine Bureaus und haben eine Selbständigkeit des
Dezernates nur insoweit, als der Reichskanzler sie ihnen gestattet.
Bei den rechtsprechenden Behörden erstreckt sich die Verantwortlich-
keit des Reichskanzlers nur darauf, daß die Tätigkeit derselben nicht
gestört und gehindert wird, daß insbesondere Einwirkungen der Ver-
waltungsbehörden nicht in rechtswidriger Weise sich geltend machen;
dagegen nicht auf den Inhalt der Entscheidungen, für welche aus-
schließlich das geltende Recht maßgebend ist. Daher kann der Reichs-
kanzler in die Geschäfte dieser Behörden materiell nicht eingreifen
keit der Minister. Im österreich. Staatswörterbuch; v. Frisch, Die Verantwortlichk.
der Monarchen und höchsten Magistrate, Berlin 1904. — Dupriez, Les Ministres
dans les principaux pays d’Europe et d’Amerique, Paris 1892/93, 2 Bde., gibt eine
vergleichende Darstellung der Behördenverfassung der wichtigsten Staaten.