Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 40. Der Reichskanzler. 375 
oder statt ihrer selbst entscheiden. Seine Verantwortlichkeit geht da- 
hin, daß diese Behörden im Stande sind, ihre Funktionen in ver- 
fassungsmäßiger Unabhängigkeit auszuüben, aber nicht dahin, wie sie 
dieselben ausüben. Für die Beschlußfassung dieser Behörden gilt 
demgemäß auch das Kollegialsystem. Hinsichtlich ihres geschäftlichen 
Wirkungskreises sind daher die rechtsprechenden Reichsbehörden dem 
Reichskanzler überhaupt nicht untergeordnet; dagegen hat der Reichs- 
kanzler ihnen gegenüber diejenigen Befugnisse, welche nach den Grund- 
sätzen des deutschen Landesstaatsrechts dem Justizminister den Lan- 
desgerichten gegenüber zukommen, d. h. die Oberaufsicht über die 
Justizverwaltung, die Aufstellung des Etats, die Gegenzeichnung 
der kaiserlichen Anstellungs- und Entlassungsdekrete für die Mitglieder. 
Zwischen den verwaltenden und den richterlichen Behörden gibt 
es aber noch eine Mittelstufe, die namentlich von einer Anzahl von 
Finanzbehörden gebildet wird, welche zwar unter der oberen Leitung 
des Reichskanzlers stehen, für einen gewissen Kreis ihrer Amtshand- 
lungen aber nach Art der richterlichen Behörden selbständig sind und 
eine unbedingte Verantwortlichkeit tragen. 
Sonach zerfallen die Reichsbehörden in Beziehung auf ihre Unab- 
hängigkeit und Verantwortlichkeit in 4 Klassen: 
1. Der Reichskanzler. 
2. Verwaltungsbehörden. 
3. Selbständige Finanzbehörden; ferner das Patentamt und das 
Versicherungsamt. 
4. Richterliche Behörden. 
$ 40. Der Reichskanzler*). 
Die juristische Definition der Stellung, welche der Reichskanzler 
einnimmt, bietet ganz ähnliche Schwierigkeiten dar, wie die juristische 
Begriffsbestimmung von Kaiser und Bundesrat, denn der Reichskanzler 
vereinigt in seiner Person so verschiedenartige Amtsbefugnisse und 
Amtspflichten, daß es unmöglich erscheint, eine der herkömmlichen 
staatsrechtlichen Kategorien aufzufinden, unter welche er vollkommen 
paßt. Die Schwierigkeiten sind aber ganz in derselben Weise zu lösen, 
*”, Jo&äl in Hirths Annalen 1878, S. 402 ff., 761ff.; Hänel, Studien II (1880), 
S.24 ff., 31ff.; Hensel in Hirths Annalen 1882, S.1ff.; Zorn, Staatsrecht I, S. 251 ff. 
und im Rechtslexikon III, S.394fg.; v. Rönne Il, $42; G. MeyerS8 135; Schulze 
8 267 fg.; W.Rosenberg, Die staatsrechtliche Stellung des Reichskanzlers, 1889; 
H. Preuß, Die organische Bedeutung der Art. 15 u. 17 der Reichsverfassung (in 
der Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft 1889, S. 420 ff); Laband, Die Wand- 
lungen der deutschen Reichsverf., Dresden 1895, S. 7 ff. u. im Jahrb. des öffentl. R. I, 
S. 29ff.; Seydel, Kommentar S. 175fg. und in seinen Staatsrechtl. Abhandlungen, 
N. F., S. 126fg.; Smend in Hirths Annalen 1906, S. 321ff. Interessantes Material 
aus den Verhandlungen des Reichstages über die staatsrechtliche Stellung des Reichs- 
kanzlers ist zusammengestellt in Hirths Annalen 1886, S. 321 ff.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.