Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

378 8 40. Der Reichskanzler. 
lichkeit des Reichskanzlers gegen den Bundesrat und Reichstag für die 
Art und Weise, wie er die Präsidialstimme führt oder die übrigen 
preußischen Rechte im Bundesrate handhabt, kann daher ebensowenig 
die Rede sein, wie von einer derartigen Verantwortlichkeit des Bevoll- 
mächtigten irgend eines anderen Bundesgliedes. 
3. Die Bevollmächtigten der einzelnen Staaten brauchen nicht not- 
wendig auch Beamte derselben zu sein; ebenso ist es nicht notwen- 
dig, daß der Reichskanzler preußischer Beamter, insbesondere preußi- 
scher Staatsminister ist!. Man kann im Gegenteil behaupten, daß die 
wachsende Geschäftslast des Reichskanzlers — als Reichsminister — 
es immer mehr verbieten wird, daß er zugleich in Wirklichkeit Chef 
eines preußischen Ministeriums ist. Staatsrechtlich ist es auch 
keineswegs erforderlich, daß der Reichskanzler zugleich preußischer 
Minister der auswärtigen Angelegenheiten ist; denn nachdem die ge- 
samte Leitung der auswärtigen Angelegenheiten auf das Reich über- 
gegangen ist, bedarf der preußische Staat eines Ministers der auswärtigen 
Angelegenheiten gar nicht mehr. Diese Stelle ist neben der des Reichs- 
kanzlers eine fast bloß nominelle ?), welche aus dem Behördenorganis- 
mus des preußischen Staates jeden Augenblick gestrichen werden und 
dadurch ihre Scheinexistenz verlieren kann, so daß es unmöglich sein 
würde, daß der Reichskanzler zugleich preußischer Minister des 
Auswärtigen wäre. Tatsächliche, politische Gründe zwingender 
Natur machen es aber notwendig, daß der Reichskanzler, gerade weil 
er der stimmführende Bundesratsbevollmächtigte Preußens ist, an den 
Beratungen des preußischen Staatsministeriums Anteil zu nehmen be- 
fugt ist, daß ihm der Ehrenvorsitz bei diesen Beratungen zusteht, und 
daß nicht nur der deutsche Kaiser und der König von Preußen, son- 
dern auch der kaiserliche Reichsminister und der erste, leitende preußi- 
sche Staatsminister identisch sind ’°). 
Hiernach beantwortet sich die Frage nach der Verantwortlichkeit 
des Reichskanzlers gegenüber dem preußischen Landtage. Sollte ein- 
mal der Fall eintreten, daß der Reichskanzler nicht zugleich preußi- 
1) Dies behauptet Preuß S. 446. 
2) Das preußische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten hat nur noch 
die Beziehungen Preußens zu den anderen Bundesstaaten wahrzunehmen und die 
Aufsicht über die preußischen Gesandten an den deutschen Höfen zu führen. Die 
Verhältnisse unter den Bundesgliedern sind aber ihrem wahren Wesen nach gar keine 
auswärtigen Angelegenheiten. Außerdem besteht zur Zeit die Anomalie, daß die 
Gesandtschaft beim Papst eine preußische, keine Reichsgesandtschaft ist. 
3) In dieser Hinsicht mag hier nur darauf hingewiesen werden, daß der Kaiser 
als solcher weder Anträge beim Bundesrat stellen noch selbständig dem Reichs- 
tage Vorlagen machen kann, sondern daß alle sogenannten Präsidialanträge beim 
Bundesrat preußische Anträge sind. Siehe oben S.238fg. Der Reichskanzler ist 
daher an die ihm vom preußischen Ministerium erteilte Instruktion gebunden und er 
würde in eine politische Abhängigkeit von dem letzteren geraten, wenn er nicht 
selbst das Haupt desselben ist und es mit seinem Geist erfüllt. Vgl. auch die sehr 
zutreffenden Ausführungen von Graßmanna. a. 0. S. 334 ff.
	        
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