Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

8 40. Der Reichskanzler. 381 
er nicht auf ein einzelnes Ressort beschränkt; er hat nicht gleichbe- 
rechtigte Kollegen neben sich, mit denen er sich in die Geschäfte teilt, 
sondern seine Kompetenz hat denselben Umfang wie die Verwaltungs- 
kompetenz des Reiches. 
4. Soweit das Recht der Einzelstaaten auf Selbstverwaltung reicht, 
liegt dem Kaiser die Ueberwachung der Ausführung der Reichs- 
gesetze ob (Reichsverfassung Art. 17) und ebenmäßig dem Reichskanzler 
die hierzu erforderliche Tätigkeit. Beschwerden und Anzeigen über 
Verletzungen der Reichsgesetze in den einzelnen Staaten sind demnach 
an den Reichskanzler zu richten; er hat die erforderlichen tatsächlichen 
Feststellungen zu machen und die Verfügungen an die Regierungen 
zu erlassen. Insoweit der Bundesrat nach Art. 7, Ziff. 3 in solchen 
Fällen zur Beschlußfassung kompetent ist, hat der Reichskanzler an 
den Bundesrat eine Vorlage gelangen zu lassen und für die Ausführung 
und Befolgung des vom Bundesrate gefaßten Beschlusses Sorge zu 
tragen '). 
9. Endlich war der Reichskanzler der verantwortliche leitende 
Minister für Elsaß-Lothringen, da durch das Gesetz vom 9. Juni 1871 
die Ausübung der Staatsgewalt im Reichslande dem Kaiser übertragen 
ist. Im 84 des angeführten Gesetzes ist ausdrücklich angeordnet, daß 
alle Anordnungen und Verfügungen des Kaisers in Ausübung dieser 
Staatsgewalt zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers 
bedürfen, der dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Durch das 
Reichsgesetz vom 4. Juli 1879, 8 2 (Reichsgesetzbl. S. 165) ist jedoch 
bestimmt worden, daß die durch Gesetze und Verordnungen dem 
Reichskanzler in elsaß-lothringischen Landesangelegenheiten überwie- 
senen Befugnisse und Obliegenheiten auf den Statthalter von Elsaß- 
Lothringen übergehen. Der letztere ist daher innerhalb dieses Ge- 
schäftskreises an die Stelle des Reichskanzlers getreten (vgl. 
unten 8 68). 
6. Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, von welcher Art. 17 
der Reichsverfassung spricht, bezieht sich selbstverständlich nur auf 
seine Tätigkeit als Reichsminister, nicht als Bundesratsbevollmächtigter. 
Diese Verantwortlichkeit ist nicht zu einem Rechtsinstitut gestaltet; es 
fehlt an Anordnungen, worauf sie sich erstreckt, wer befugt ist, sie 
geltend zu machen, welches Verfahren dabei einzuhalten ist, welche 
Wirkungen mit ihr verknüpft sind. Die Verantwortlichkeit des Reichs- 
kanzlers ist daher nur ein politisches Prinzip, das seiner Verwirklichung 
durch Rechtssätze noch harrt, welches aber doch als solches nicht 
wirkungslos ist, sondern die sogenannte politische oder parlamen- 
tarische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers begründet. Die praktische 
Folge derselben besteht im wesentlichen darin, daß der Reichskanzler 
Reichskanzler zustehenden Befugnisse und obliegenden Verpflichtungen bei Hensel 
S. 35 ff. 
1) Siehe oben S. 1131g.
	        
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