382 & 40. Der Reichskanzler.
sich der politischen Notwendigkeit nicht entziehen kann, auf Angriffe
gegen seine Geschäftsführung im Bundesrat!) und Reichstag Rede zu
stehen?).. Für die Beantwortung der Frage nach dem Umfange dieser
Verantwortlichkeit sind nun die vorstehenden Erörterungen von Belang
und es ergibt sich daraus der Unterschied zwischen der Verantwort-
lichkeit des Reichskanzlers und der Verantwortlichkeit des Ministers
eines Einzelstaates. Die Verantwortlichkeit reicht so weit wie die
Kompetenz. Auf dem Gebiete der eigenen Verwaltung des Reiches ist
daher der Reichskanzler verantwortlich dafür, daß die gesamte amtliche
Tätigkeit der Reichsbehörden den Gesetzen des Reiches gemäß geschieht
und von den einheitlichen Grundgedanken der äußeren und inneren
Politik, welche das Reich verfolgt, durchdrungen ist?). Dagegen auf
dem Gebiete der Selbstverwaltung der Einzelstaaten ist der Reichs-
kanzler nur dafür verantwortlich, daß die dem Reiche zuständige
Ueberwachung wirksam gehandhabt wird. Die Amitstätigkeit der
Landesbehörden innerhalb des den Einzelstaaten überlassenen Selbst-
1) Rosenberg S.31fg. bestreitet, daß der Reichskanzler auch dem Bundesrat
verantwortlich sei, jedoch aus unzulänglichen Gründen; in der Wahrung der allge-
meinen Reichsinteressen gegenüber den verwaltenden Behörden sind Bundesrat und
Reichstag gleichberechtigte Organe. Uebereinstimmend Preuß S. 44; Zorn],
S. 258; v. Frischa.a. O0. S. 319.
2) HenselS.5lfg. geht wohl zu weit, wenn er in Uebereinstimmung mit
Seydel, Kommentar (erste Auflage) S. 129 die Verantwortlichkeit des Reichskanz-
lers als eine bloße Phrase bezeichnet und in Abrede stellt, daß für denselben eine
„Ministerverantwortlichkeit“ im Sinne des konstitutionellen Staatsrechtes bestehe;
seine Verantwortlichkeit sei vielmehr völlig identisch mit der für jeden Reichsbe-
amten durch das Reichsbeamtengesetz begründeten Haftung für die Gesetzmäßigkeit
seiner Handlungen. Daß dieses nicht der Sinn und Zweck der Bestimmung des Art. 17
sein sollte, ergibt sich mit unzweifelhafter Sicherheit aus den Verhandlungen des
verfassungsberatenden Reichstages. Vgl. Stenogr. Berichte S. 325 ff.; ferner Hänel
a.a. 0.8. 20fl.; v. Rönnel,S. 29; Zorn] S. 258; Meyer$ 18; Schulze
8 269 und besonders Preuß S. 434 ff. Dagegen ist der Streit, ob die Verantwort-
lichkeit als eine politische oder als eine rechtliche zu bezeichnen sei, ein bloßer
Wortstreit; sachlich besteht über das Wesen derselben keine Differenz. Daß die
Verantwortlichkeit, auch wenn sie eine rechtliche ist, auf einer lex imperfecta beruht
und es kein gesetzliches Mittel zur Geltendmachung derselben gibt, ist unbezweifelt;
ob man daher die Pflicht des Reichskanzlers, dem Reichstage Rede zu stehen, als
eine Rechtspflicht oder als eine politische Pflicht ansieht, begründet praktisch keinen
Unterschied.
3) Der Reichskanzler selbst bemerkte in der Reichstagssitzung vom 1. Dezember
1874 hierüber: „Ich bin meines Erachtens dafür verantwortlich, daß an der Spitze
der einzelnen Zweige der Reichsverwaltung Leute stehen, die ihre Verwaltung im
großen und ganzen in der Richtung des Stromes führen, den das deutsche politische
Leben nach der augenblicklichen Richtung des deutschen Geistes und der deutschen
Geister zu laufen genötigt ist... .. im wesentlichen aber dafür, daß an jeder Stelle,
die zu besetzen ist, jemand steht, der nach dem gewöhnlichen Ausdrucke tanti ist,
diese Geschäfte zu besorgen.“ Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers beschränkt
sich daher keineswegs auf die Gesetzmäßigkeit der von ihm gegengezeichneten An-
ordnungen und Verfügungen des Kaisers, von welcher allerdings Art. 17 der Reichs-
verfassung nur redet.