412 8 43. Die richterlichen Reichsbehörden.
dungen!). Die unabhängigere Stellung der richterlichen Beamten ist
nur ein Mittel, um die unabhängige Amtstätigkeit der rechtsprechenden
Behörden zu garantieren; aber sie ist keineswegs wesentlich und un-
erläßlich; es gibt zahlreiche, zur Rechtsprechung berufene Behörden,
welche nicht aus richterlichen Beamten bestehen. Die rechtsprechen-
den Behörden sind ebensowenig auf das Gebiet der eigentlichen Justiz
beschränkt: es lassen sich vielmehr drei Kategorien derselben unter-
scheiden: Justizgerichte, Disziplinargerichte, Verwaltungsgerichte.
J. Reichsjustizgerichte.
1. Das Reichsgericht. Als durch das im Jahre 1869 dem
Reichstage vorgelegte Gesetz die deutsche Wechselordnung und das
deutsche Handelsgesetzbuch zu Bundesgesetzen erklärt und dadurch
vor partikularistischen Abänderungen mittelst der Landesgesetzgebung
geschützt werden sollten, erwies sich die Einsetzung eines gemeinsamen
obersten Gerichtshofes für Wechsel- und Handelssachen als notwendig,
»um der Gefahr einer abweichenden Entwicklung des einheitlichen
Rechts durch die Praxis und Judikatur vorzubeugen «?).
Auf Antrag der königl. sächsischen Regierung wurde daher die
Errichtung eines obersten Gerichtshofes für den Norddeutschen Bund
in Aussicht genommen, welcher in Handels- und Wechselsachen an
die Stelle der obersten Gerichtshöfe der einzelnen Staaten treten sollte °).
Eine alsbaldige Verwirklichung fand dieser EntschluB durch das
Bundesgesetz vom 12. Juni 1869 (Bundesgesetzbl. S. 201), wel-
ches die Errichtung dieses Gerichtshofes in Leipzig anordnete und
über die Organisation und Kompetenz desselben die erforderlichen
Anordnungen traf. Durch Verordnung vom 22. Juni 1870 (Bundes-
gesetzbl. S. 418). wurde der Beginn seiner Wirksamkeit auf den 5. Au-
gust 1870 festgesetzt. Bei dem Hinzutritt der süddeutschen Staaten
wurde das Gesetz auf Süddeutschland ausgedehnt; auf Bayern durch
Gesetz vom 22. April 1871, $ 5 (Reichsgesetzbl. S. 89). Seit dem
2. September 1871 führte der Gerichtshof den Namen »Reichsober-
1) Siehe oben S. 374.
2) Reichstagsverhandlungen 1869, Anlagen S. 250. Vgl. auch die Erklärung des
Bundesratsbevollmächtigten Pape im Reichstag am 10. April 1869. Stenogr. Berichte
I, S. 285 fg.
3) Ueber die Vorgeschichte dieses Antrags vgl. Goldschmidt, Handbuch des
Handelsrechts Bd.1, 2. Aufl., S. 147, 148 und Behrend in seiner Zeitschrift für Ge-
setzgebung und Rechtspflege in Preußen III, S. 200 ff. — Der im Auftrage der säch-
sischen Regierung von dem Oberappellationsrat Tauchnitz ausgearbeitete Gesetzent-
wurf wurde nebst Motiven am 23. Februar 1869 dem Bundesrat vorgelegt. Der
Justizausschuß empfahl mittelst Berichtes vom 22. März 1869 dessen Annahme und
der Bundesrat trat diesem Antrage bei. Nachdem auch der Reichstag dem Gesetz-
entwurf mit einigen Abänderungen zugestimmt hatte (die Verhandlungen darüber
finden sich in den Stenogr. Berichten des Reichstages von 1869 I, S. 285 ff.; II, S. 784 ff.,
983 ff.), sanktionierte ihn der Bundesrat mit Zweidrittelmajorität, was von Erheblich-
keit war wegen der durch dieses Gesetz bewirkten Kompetenzerweiterung des Bundes.