Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

462 8 47. Die Pflichten und Beschränkungen der Reichsbeamten. 
dehnen, ob die vorgesetzte Behörde die bestehenden Rechtsvorschriften 
materiell richtig ausgelegt und angewendet hat, so würde man das 
System der Behördenorganisation und die Unterordnung der niederen 
Behörden unter die oberen nicht nur zerstören, sondern geradezu auf 
den Kopf stellen. Die untere Behörde und der niedriger gestellte Be- 
amte hätte das Recht und die Pflicht, die Entscheidungen und Ver- 
fügungen der oberen Behörde und des vorgesetzten Beamten einer 
Ueberprüfung zu unterziehen und es würde demnach nicht das Reichs- 
gericht, sondern der Gerichtsvollzieher, nicht das Finanzministerium 
oder die Oberzolldirektion, sondern der Zolleinnehmer in Wahrheit 
die letzte Instanz sein. In allen Fällen, in welchen die höhere Instanz 
eine andere Rechtsansicht wie die niedere festhält, müßte sie auch die 
Durchführung unmittelbar und ohne Mitwirkung der niederen Instanz 
übernehmen oder gewärtigen, daß die letztere ihre Dienste verweigert. 
Das unbedingte und unbeschränkte Prüfungsrecht bringt eben die un- 
bedingte und unbeschränkte Verantwortlichkeit als Korrelat mit sich. 
In dem heutigen Staate wird in den verschiedenen, einander über- 
geordneten oder auch nebengeordneten Behörden die einheitliche 
Staatsgewalt tätig; die Behörden sind durchweg auf ein Zusammen- 
wirken angewiesen und es ist daher eine Vollziehung der staatlichen 
Geschäfte gar nicht denkbar, wenn nicht jeder Beamte Entscheidungen, 
Verfügungen und Requisitionen befolgt, ohne die materielle Richtig- 
keit und Regelmäßigkeit seinerseits nochmals zu prüfen und ohne von 
dem Ausfall dieser Prüfung es abhängig zu machen, ob er seine Mit- 
wirkung leisten oder versagen will. 
Die Prüfungspflicht des Beamten erstreckt sich vielmehr lediglich 
auf die formelle Rechtmäßigkeit der ihm erteilten Vorschriften und 
zerlegt sich in drei Fragen: Ist die befehlende Behörde kompetent, den 
Befehl zu erlassen ? Ist der beauftragte Beamte kompetent, die ihm 
aufgetragene Handlung vorzunehmen? Ist der Befehl in der vorschrifts- 
mäßigen Form erteilt worden? 
1. Der letzte dieser drei Punkte ist praktisch gewöhnlich von 
untergeordneter Wichtigkeit und gibt zu Zweifeln selten Anlaß. In 
der Theorie und Gesetzgebung besteht, wenn die Frage überhaupt be- 
rührt wird, kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber, daß Befehle 
oder Verfügungen, welche nicht in vorschriftsmäßiger amtlicher Form 
erteilt werden, keine verbindliche Kraft haben). Es ist jedoch festzu- 
halten, daß eine allgemeine Regel über die Form amtlicher Verfügun- 
gen nicht besteht, daß vielmehr in zahlreichen Fällen mündliche An- 
recht (Leipzig 1904), S. 50ff. Etwas abweichend Cosack, Hessisches Staatsrecht 
S. 46 und Otto Mayer, Verwaltungsrecht Il, S. 234 ff. swie Anschütz, EnzyKkl. 
S. 591. 
1) Einige Verfassungen, welche diesen Rechtssatz enthalten, stellt Zachariä 
II, 8 137, Note 14 zusammen. Vgl. ferner Bluntschlia. a.0. II, S.137; v. Mohl 
a.a. O.; v. Pözl, Bayer. Verfassungsrecht S. 510; Schulze .a.a.0.S. 327.
	        
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