60 $S 7. Staatenbund und Bundesstaat.
III. Nicht jeder zusammengesetzte Staat oder
Staatenstaatist Bundesstaat. Der Staatenstaat verlangt eine
Staatsgewalt, welche über den Gliedstaatsgewalten steht und folglich
begrifflich von den letzteren verschieden ist. Sowie aber im Einheits-
staat die Staatsgewalt nicht immer den gleichen Träger hat, sondern
bald der Gesamtheit der Bürger, bald einer einzelnen physischen Person
zustehen kann und man darnach die Demokratie, die Monarchie usw.
unterscheidet, so kann auch die Staatsgewalt im Staatenstaat der Ge-
samtheit der Mitgliedsstaaten oder einem von ihnen (von anderen
denkbaren, aber nicht praktischen Möglichkeiten abgesehen) zustehen.
Von einem Bunde spricht man nur im ersten Falle. Es gibt kein
einziges Beispiel eines zusammengesetzten Staatswesens, welches man
als Bund oder Bundesstaat je bezeichnet hätte, in welchem nicht
den Einzelstaaten ein Anteil an dem Zustandekommen und der Be-
tätigung des Gesamtstaatswillens zugestanden hätte')., Für das genus,
den zusammengesetzten Staat, ist eine bestimmte Organisation kein
begriffliches Erfordernis; dagegen die species, der Bundesstaat, wird
gerade durch eine gewisse Form der Organisation, nämlich durch die
Beteiligung der Einzelstaaten an der Herstellung des Gesamtwillens,
begrifflich bestimmt ?).
den drei im Text erwähnten Möglichkeiten. Das Wesentliche ist, daß die Einzel-
staaten einerseits ihre Unabhängigkeit (Souveränität) eingebüßt, andererseits aber
eine eigene Staatsgewalt (Herrschaft) unter der Oberhoheit des Gesamtstaats be-
halten haben. Die Regulierung der Kompetenz, die Verteilung der Funktionen, durch
die positiven Bestimmungen der Verfassung und der Reichsgesetze läßt dieses Grund-
verhältnis unberührt. Vgl. Anschütz, Enzykl. S. 515.
1) In der neueren Literatur besteht darüber Einverständnis. Auch in der
Schweizer Verfassung von 1848, auf welche man sich früher für die entgegengesetzte
Ansicht berufen hat, sind die Kantone an der Bundesgewalt beteiligt, indem nach
Art. 69 der Ständerat aus 44 Abgeordneten der Kantone besteht, von denen jeder
Kanton 2 Abgeordnete wählt, und nach Art. 144 eine revidierte Bundesverfassung
Kraft erlangt, wenn sie nicht nur von der Mehrheit der stimmenden Schweizerbürger,
sondern auch von der Mehrheit der Kantone angenommen ist. Ebenso die Bundes-
verfassung vom 29. Mai 1874, Art. 80, 121. Dasselbe gilt von den Vereinigten Staaten,
indem nach der Verfassung derselben Sekt. 3, Art. 1 der Senat aus 2 Deputierten
eines jeden Staates zusammengesetzt ist.
2) In der früheren, namentlich von Waitz begründeten Bundesstaatstheorie
wurde als ein wesentliches Erfordernis des Bundesstaates aufgestellt, daß die Glied-
staaten von der Leitung der Gesamtangelegenheiten ausgeschlossen seien, daß
die Regierung in keiner Weise in Abhängigkeit von den Einzelstaaten stehe. „Dar-
um sei jede Delegation durch diese unbedingt ausgeschlossen ; weder die Regie-
rungen der Einzelstaaten, noch ihre Volksvertretungen können das Organ bestellen,
welches die Leitung der für die Gesamtheit der Nation gemeinsamen Angelegen-
heiten besorgen soll, auf welche die Einzelstaaten ihre Einwirkung gar nicht zu er-
strecken haben.“ Ein durch die Einzelstaaten bestelltes Kollegium von Bevollmäch-
tigten, wie es den Staatenbund charakterisiert, hält Waitz, Politik S. 173 fg. für
allein genügend, um jeden Gedanken an einen Bundesstaat auszuschließen. Da nun
die norddeutsche Bundesverfassung diesem Erfordernis des doktrinären Bundesstaats-
begriffs durch die Institution des Bundesrats direkt widersprach, so haben sehr zahl-