Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

& 8. Fortsetzung. Kritik entgegenstehender Ansichten. 83 
Einzelstaaten gegenübergestellte Organisation Staat in der vollen Be- 
deutung des Wortes sei«, erörtert er im 8 136 »die Staatsart der Einzel- 
staaten«. Er erklärt, daß sie einerseits weder bloße Selbstverwaltungs- 
körper seien, weil sie in Bezug auf die der Reichskompetenz nicht 
unterliegenden Aufgaben frei von allen gesetzlichen Direktiven und 
frei von Kontrolle und Zwang von seiten des Reichs seien; und er 
spricht ihnen andererseits den Charakter von Staaten ab, weil ihnen 
die Souveränität fehle. »Sie seien vielmehr zurückgeführt auf das, 
worauf sie historisch allein einen Anspruch haben (!?), auf Landes- 
hoheit« (S. 805). Dies ist ein Wort, dem im heutigen Staats- 
recht kein Begriff entspricht. Wodurch unterscheidet sich die Landes- 
hoheit von der Staatsgewalt? Darauf gibt Hänel keine Antwort. 
Wenn er auf das frühere Deutsche Reich hinweist, so ist damit 
wenig geholfen. Gab es im Staat Friedrichs des Großen keine Staats- 
gewalt und waren die Kurfürstentümer und Fürstentümer im vorigen 
Jahrhundert keine Staaten? Sie waren es der Sache und der Bezeich- 
nung nach. Wenn Hänel S. 806 am Schluß seiner Ausführungen 
mit Emphase und besonders fetter Schrift den Satz hinstellt: »Das 
Reich ist der Deutsche Staat schlechthin«, so wird damit für die wissen- 
schaftliche Erkenntnis des juristischen Wesens der Gesamtverfassung 
Deutschlands nichts gewonnen!). 
6. Eine weitere Fortbildung hat die Hänelsche Bundesstaatstheorie 
durch Gierke (in Schmollers Jahrbuch Bd. 7, S. 1125 u. 1167 ff.) 
erhalten, indem derselbe sie mit seiner Genossenschaftstheorie in Ver- 
bindung gesetzt hat. Er findet den Grundfehler der von mir entwickel- 
ten Konstruktion in dem individualistischen Persönlichkeits- 
begriff, welchen er als »zivilistisch« brandmarkt. An die Stelle des- 
selben will er die genossenschaftliche Gesamtpersönlichkeit setzen, in 
welcher die Einheit in der Vielheit der Mitglieder und gleichzeitig die 
Vielheit der Gliedpersönlichkeit als Einheit zur Verwirklichung gelange. 
Die privatrechtlichen Analogien, welche Gierke für zutreffend erachtet, 
sollen der objektive Begriff des Gesamteigentums und sein Korrelat 
der subjektive Begriff der Genossenschaft sein. Eine nähere Durch- 
führung dieser Auffassung hat Gierke zwar mit spezieller Beziehung 
auf den Bundesstaat nicht gegeben, allein in seinem bekannten 
umfangreichen Werke über das Genossenschaftsrecht hat er diese 
Rechtsbegriffe des Gesamteigentums und der genossenschaftlichen 
Gesamtperson so ausführlich erörtert, daß seine Anschauung zwei- 
1) Hänel, Staatsr. I, S. 207 bezeichnet als das Wesentliche seiner Anschauung, 
daß sie die Einzelstaaten „nicht nur von einzelnen Seiten her, sondern in ihrer To- 
talität als eingefügt in eine staatliche Gesamtordnung erachtet“. Diese Anschauung 
ist aber allen neueren Darstellungen gemeinsam; sie ist gar nichts Besonderes; sie 
ist aber auch viel zu vage undinhaltslos, um eine bestimmte Vorstellung vom Wesen 
des Bundesstaates zu geben. Dieselbe wird vielmehr erst dadurch gewonnen, daß 
man die juristische Gestalt der staatlichen Gesamtordnung und die recht- 
lichen Formen, in denen die Einzelstaaten ihr eingefügt sind, präzisiert.
	        
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