6 8 54. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes.
Das Hoheitsrecht des Staates oder die Staatsgewalt kommt nicht
in der Herstellung des Gesetzesinhaltes, sondern nur in der Sanktion
des Gesetzes zur Geltung; die Sanktion allein ist Gesetzgebung im
staatsrechtlichen Sinne des Wortes. Das Recht zur staatlichen Ge-
nehmigung in dieser Bedeutung ist ebenso unteilbar wie die Staats-
gewalt, deren Ausfluß und Betätigung es ist, und die Frage nach dem
ihn zum Gesetzesbefehl macht, ist lediglich die Natur seines Inhalts als Rechtssatz,
aus der er sich ohne weiteres ergibt; und der Rechtssatz hinwiederum enthält von
vornherein den Gesetzesbefehl als notwendiges Moment, da man nicht wollen
kann, daß etwas recht sei, ohne zugleich zu wollen, daß es bindende Kraft habe.“
Ganz übereinstimmend Schulze, Deutsches Staatsrecht I, S. 527. Hier wird mit
dem Doppelsinn des Wortes „Rechtssatz“ gespielt, das sowohl einen Satz des geltenden
Rechts als einen Satz: von juristischem Inhalt bezeichnet. Der Gesetzzentwurfin
seiner definitiven Fassung und das Gesetz haben einen völlig identischen
Inhalt; dennoch hat derselbe Satz vor der Sanktion keine Autorität, wohl aber nach
derselben; mithin ist es nicht „lediglich die Natur seines Inhalts als Rechtssatz,
aus der sich der Gesetzesbefehl obne weiteres ergibt“, sondern es ist erforderlich,
daß etwas weiteres hinzukommt, daß dem „Rechtssatz“ verbindliche Kraft erteilt
wird. Nur darf man die Unterscheidung zwischen der Feststellung des Gesetzesin-
halts und der Sanktion nicht in der Art mißverstehen, daß man diese beiden Erfor-
dernisse gänzlich auseinander reißt. Beide bilden notwendige Bestandteile des Ge-
setzgebungsgeschäftes. Ein Beschluß der Volksvertretung über einen Gesetzentwurf
ist wesentlich verschieden von einer Resolution eines Juristentages u. dgl., indem er
zu dem Zweck erfolgt, daß der gebilligte Satz der positiven Rechtsordnung eingefügt
werden soll und indem er eine staatsrechtliche Vorbedingung für die Sanktion
desselben realisiert. Die Volksvertretung stimmt allerdings nicht nur zu, daß der
Gesetzentwurf diesen bestimmten Wortlaut habe, sondern auch, daß er durch die
Sanktion des Monarchen zum Gesetz umgewandelt werden könne und solle. —
Für die Unterscheidung zwischen Gesetzesbefehl und Feststellung des Gesetzesinhaltes
in dem hier entwickelten Sinne erklären sich Zorn, Staatsrecht I, S. 407 ff.; Rosin
(2. Aufl.), S. 230; Gareis, Allgem. Staatsrecht S. 60. 78; Seligmann S. 131ff.;
Pröbst in Hirths Annalen 1882, S. 287; Jellinek S. 3l4fg. und jetzt auch Seydel,
Bayer. Staatsrecht I, S. 310fg. Weitere Literaturangaben bei G. Meyer, Staats-
recht $ 157, Note 4. Diese Unterscheidung darf übrigens nicht auf ein Gebiet hin-
übergetragen werden, auf welches sie gar keine Beziehung hat, nämlich auf die Be-
deutung der Gesetzgebung als Rechtsquelle, ihr Verhältnis zum Rechtsbewußtsein
des Volkes u. dgl., wie dies von Binding, Handbuch des Strafrechts I, 8 40 und
namentlich von Gierke in Schmollers Jahrbuch a. a. O. geschieht; treffend bemerkt
dagegen Wach, Handbuch des Zivilprozesses I, 8 20, Note 3, „daß diese Unterschei-
dung staatsrechtlich, für die Entstehung des Gesetzes grundlegend sei, nicht
für das juristische Wesen des Gesetzes als Rechtsquelle“. Vgl. auch die wohldurch-
dachten Ausführungen von Hermanson, Om Lagstiftningen S. 53ff. — Fricker
a.a. OÖ. S. 14fg. erkennt es als richtig an, daß der Gesetzesinhalt auch von einem
andern als dem Gesetzgeber gefunden und formuliert werden kann, er meint aber,
daß „staatsrechtlich“ der Gesetzgeber allein den Inhalt positiv bestimmen könne und
daß auch in der konstitutionellen Monarchie der Monarch allein den Gesetzesinhalt
„rechtlich“ schafft, während die Stände auch hinsichtlich des Gesetzesinhalts kein
anderes Recht als das des Veto haben. Diese Auffassung scheint mir aber eine mit
den tatsächlichen Vorgängen im grellen Widerspruch stehende und mit der Befugnis
der Stände zur Initiative und zur Amendierung unvereinbare Fiktion zu sein.
1) Vgl. auch v. Linde, Archiv für civil. Praxis Bd. 16, S. 329, 330 und jetzt
JellinekS. 315.