8 58. Die Rechtsverordnungen des Reichs. 101
kanzlers eine Bundesratsverordnung treten ').
Ebenso, wie von den kaiserlichen Verordnungen diejenigen Anord-
nungen des Kaisers zu unterscheiden sind, welche im juristischen Sinne
Verfügungen sind, so sind auch die von dem Reichskanzler oder einer
anderen Reichsbehörde kraft gesetzlicher Delegation erlassenen Rechts-
verordnungen wohl zu unterscheiden von den von ihnen bei Erledigung
der ihnen obliegenden Verwaltungsgeschäfte erteilten Anordnungen, für
welche sie einer besonderen Delegation nicht bedürfen, zu denen sie viel-
mehr kraft ihres allgemeinen amtlichen Geschäftsauftrages befugt sind.
Die Analogie zwischen den kaiserlichen Verordnungen und den
Verordnungen des Reichskanzlers zeigt sich auch darin, daß bei den
letzteren ebenfalls die Zustimmung des Bundesrates oder eines
Bundesratsausschusses zu dem Inhalt der Verordnung für erforder-
lich erklärt werden kann ?). Ist dies gesetzlich vorgeschrieben, so muB
der Inhalt der Verordnung zwischen dem Reichskanzler und dem
Bundesrate oder Bundesratsausschuß vorerst vereinbart werden, wäh-
rend die Sanktion der auf diese Art festgestellten Verordnung dann
durch den Reichskanzler erfolgt.
Auch andere Reichsbeamte als der Reichskanzler können zum Er-
laß von Rechtsvorschriften gesetzlich ermächtigt werden. Der wich-
tigste Fall, in welchem dies geschehen ist, bildet die durch das Kon-
sulargerichtsbarkeitsgesetz vom 10. Juli 1879, 8 4 (Gesetz vom 7. April
1900, 8 51) begründete Befugnis der Reichskonsuln zum Erlaß
von Polizeiverordnungen, die materiell unzweifelhaft Strafgesetze sind ?°).
Die gleiche Befugnis ist in den deutschen Schutzgebieten den zur Aus-
übung der Gerichtsbarkeit ermächtigten Beamten übertragen *). Der
Inhalt dieser Verordnungen kann den Konsuln oder Gouverneuren
durch Dienstbefehl des Reichskanzlers oder des Kolonialamtes vorge-
1) Es kann andererseits auch bezweifelt werden, ob in denjenigen Fällen, in
welchen der Erlaß von Ausführungsbestimmungen dem Bundesrat gesetzlich
übertragen worden ist, der Bundesrat ermächtigt ist, diese Befugnis dem Reichs-
kanzler zu subdelegieren, wie dies z. B. in der Verordnung vom 19. Juni 1871,
& 10, Abs. 1 (Reichsgesetzbl. S. 258) und sonst öfters geschehen ist.
2) Beispiele bieten das Konsulatsgesetz $ 38; Postgesetz vom 28. Oktober 1871,
8 50; Schiffsvermessungsordn. vom 5. Juli 1872, 8 35; Gesetz vom 23. Mai 1873 (In-
validenfonds), $ 11 (Reichsgesetzbl. S. 121). Telegraphenwegeges. vom 18. Dezember
1899 $ 18 (RGBl. S. 710); Desinfektionsvorschriften (Bekanntm. vom 11. April 1907
RGBl. S. 95) Fleischbeschaugesetz vom 3. Juni 1900 (RGBl. S. 547) $S 12, 15, 21;
Münzgesetz vom 1. Juni 1909 8 7 Abs. 3 (RGBl. S. 509) u. a. Insbesondere ermächti-
gen die neueren Gesetze den Reichskanzler mit Zustimmung des Bundesrats zur
Anordnung des Vergeltungsrechts. Einführungsgesetz zum BGB. Art. 31;
zur Zivilprozeßordn. (neue Fassung) $ 24; Konkursordn. $ 5, Abs. 2; Patentgesetz
$ 12. Noch komplizierter ist die Vorschrift im $ 10 des Reichsgesetzes vom 20. Dezem-
ber 1875, wonach Vollzugsbestimmungen von dem Reichskanzler, nach Anhörung
der Reichspostverwaltung und des Reichseisenbahnamts, unter Zustimmung
des Bundesrats zu erlassen sind. 3) Vgl. Rosina. a. O. S. 220 ff.
4) Reichsgesetz vom 17. April 1886, $S 2 (Reichsgesetzbl. S. 75). Fassung vom
10. September 1900, $ 8 u. 15.