104 8 58. Die Rechtsverordnungen des Reichs.
Es ergibt sich endlich, daß die Einzelstaaten einer ausdrücklichen
reichsgesetzlichen Ermächtigung zum Erlaß von Gesetzen auf den ihrer
Autonomie überlassenen Gebieten nicht bedürfen, wohl aber zum Er-
laß von Verordnungen behufs Ausführung von Reichsgesetzen !). Die
Delegation an die Einzelstaaten kann auch in der Art beschränkt sein,
daß zwar der formelle Erlaß (die Sanktion) der Anordnungen ihnen
zusteht, der materielle Inhalt derselben dagegen vom Bundesrat fest-
gestellt wird, wie dies z. B. in dem Gesetz vom 25. Februar 1876, 84
(Reichsgesetzbl. S. 164) geschehen ist?); oder daß ihnen die Anord-
nung von Ausführungsbestimmungen nur subsidiär übertragen ist, d.h.
soweit nicht der Bundesrat selbst sie erläßt, wofür das Gesetz vom
6. Februar 1875, $ 83 ein Beispiel liefert.
IV. Die Verordnung bedarf wie das Gesetz einer formellen und
authentischen Erklärung und mithin einer Ausfertigung. Hin-
sichtlich der vom Kaiser zu erlassenden Verordnungen versteht es sich
von selbst, daß sie vom Kaiser ausgefertigt werden. Es finden die-
selben Grundsätze Anwendung, wie bei den Gesetzen; die Ausfertigung
besteht in einer vom Kaiser unterschriebenen, mit dem kaiserlichen
Siegel versehenen, datierten und vom Reichskanzler oder einem ver-
antwortlichen Stellvertreter gegengezeichneten Urkunde. Ist der Er-
laß der Verordnung dem Reichskanzler übertragen, so ist die Ur-
kunde, welche die Verordnung enthält, von ihm zu unterzeichnen ?).
1) Uebereinstimmend Seydelin Hirths Annalen 1876, S.13, Notel. Dagegen
meint v. Rönne, Preuß. Staatsrecht I, 1, $ 48 (S. 197), daß, „soweit die Einzel-
staaten die Vollziehung von Reichsgesetzen haben, ihnen selbstverständlich (?) auch
das Recht des Erlasses aller Ausführungsverordnungen zusteht“. Es liegt hier wahr-
scheinlich eine Verwechslung der Verwaltungsverordnung mit der Rechtsverordnung
(dem Ausführungsgesetz) zugrunde.
3) Aehnlich auch in dem Gesetz vom 7. April 1869 (Maßregeln gegen die Rinder-
pest betreffend) $ 7 und 8 und in anderen Fällen. Hänel, Studien II, S. 66 nennt
dies ein mittelbares Verordnungsrecht des Bundesrates und führt S. 71fg. den
Nachweis, daß nach dem ursprünglichen Entwurf der norddeutschen Bundesverfassung
der Bundesrat überhaupt auf ein mittelbares Verordnungsrecht beschränkt sein
sollte, und erst später die Umwandlung aus einem mittelbaren in ein unmittelbares
Verordnungsrecht sich vollzogen hat (S. 87). Dieser Beweis ist durch das, was
Ad. Arndta.a. 0. S.87ff. dagegen vorgebracht hat, wie ich glaube, nicht ent-
kräftet worden. Begrifflich ist aber das sogenannte mittelbare Verordnungsrecht
überhaupt kein Verordnungsrecht, da der Beschluß des Bundesrates keine Verord-
nung erzeugt, sondern nur die Pflicht der Einzelstaaten zum Erlaß übereinstimmender
Verordnungen mit einem gegebenen Inhalt begründet; das Verordnungsrecht, welches
dieser Pflicht entspricht, steht daher in Fällen dieser Art den Einzelstaaten zu.
Man darf überhaupt nicht übersehen, daß die Einzelstaaten, auch wenn ihnen der
Erlaß der Verordnungen delegiert ist, im Bundesrat eine Vereinbarung treffen können
über einen übereinstimmenden Gebrauch, den sie von dieser Ermächtigung machen
werden. Beispiele siehe bei Hubrich Reichsgericht S. 31 ff.
3) Die Vertretung des Reichskanzlers bestimmt sich nach dem Reichsgesetz vom
17. März 1878. Die Ausfertigung durch einen anderen Beamten in Vertretung des
Reichskanzlers kann bei dem Erlaß von Rechtsverordnungen nicht für zulässig erachtet
werden. Ebensowenig kann eine vom Kaiser zu erlassende Verordnung vom Reichs-