Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 54. Der Begriff und die Erfordernisse des Gesetzes. 15 
der Reichsabschiede bildete ein nicht unbeträchtliches Kapitel des 
Reichsrechts. Wenn allseitiges Einverständnis über die Fassung des 
Reichsabschiedes erzielt und die Ausfertigung mit Unterschriften und 
Siegeln versehen war, so wurde eine feierliche Sitzung des Reichstages 
anberaumt, in welcher der Kaiser in Person oder sein Kommissar über 
die Verhandlungen des Reichstages berichtete, hierauf den Reichsab- 
schied vom Reichskanzler laut vorlesen ließ, und endlich die Stände 
ermahnte, die Vorschriften desselben zu befolgen. Dieser Akt heißt 
bei den Reichspublizisten die Publicatio oder auch Promulgatio des 
Reichsabschiedes!): die Befugnis, diesen Akt vorzunehmen, wurde als 
kaiserliches Reservatrecht angesehen. Wurde von den versammelten 
Ständen kein Widerspruch erhoben, so lag hierin die Erklärung des 
Einverständnisses mit der Fassung des Reichsabschiedes. Eine be- 
glaubigte Abschrift wurde dem Reichskammergericht von der Reichs- 
kanzlei zugesendet. Der eben beschriebene Akt der Publicatio war 
keine Verkündigung im Sinne von Bekanntmachung. Kaiser und 
Reichstag hatten selbst den Reichsabschied beschlossen, ihnen 
brauchte er also nicht kund gemacht zu werden; die Behörden 
und Angehörigen des Reiches aber erlangen durch die feierliche 
Schlußsitzung des Reichstages keine Kunde von dem Inhalte des 
Reichsgesetzes. Die Verkündigung der Reichsabschiede im eigentlichen 
Sinne war im wesentlichen Sache der Stände, welche dieselbe in 
ihren Territorien zu veranlassen hatten?) Die Bedeutung der feier- 
lichen Publicatio des Reichsabschiedes bestand vielmehr darin, daß 
Existenz und Wortlaut der vom Kaiser und Reichstag vereinbar- 
ten und vom Kaiser sanktionierten Reichsgesetze in solenner und 
authentischer Form konstatiert wurden; es war die »solemnis editio« 
des Reichsgesetzes °). 
1) Arumäus, De Comitiis cap. 8, nro. 95; Strube, Corp. jur. publ. cap. 23, 
8 33 sq.,; Pfeffingera.a. O. nro. 98—100; Mosera. a. OÖ. Daselbst findet sich 
S. 283-295 eine genaue Beschreibung aller Vorgänge bei der „Publikation“ des Reichs- 
abschiedes von 1654. 
2) Die Mitteilung der Reichsgesetze seitens des Kaisers an die Reichsbehörden 
und die Kreisausschreibeämter und Stände nannte man allerdings auch Publikation, 
gewöhnlich aber Insinuation oder Intimation. Die Art und Weise der Bekannt- 
machung war eine sehr ungeregelte.e Moser, Teutsches Staatsrecht Bd. 50, S. 50 ff.; 
vgl. auch Güterbock, Entstehungsgeschichte der Karolina (1876), S. 199 fg. 
3) Dieselbe Form ist in das ungarische Staatsrecht übergegangen und hat 
sich dort bis in die neueste Zeit erhalten. Nachdem über den Gesetzesinhalt voll- 
ständige Uebereinstimmung zwischen dem König und den Ständen erzielt worden 
war, erfolgte die Sanktion in Form eines königl. Dekrets. Darauf wurde das Gesetz 
ausgefertigt, mit dem großen Königssiegel versehen, vom Könige, dem ungari- 
schen Hofkanzler und dem Reichstagsreferenten der Hofkanzlei unterschrieben und 
den Reichsständen in feierlicher Weise übergeben. Dies war die solemnis editio 
legis. Ganz verschieden davon ist die Verkündigung, welche alsdann auf Grund amt- 
licher Abschriften in den Versammlungen der Komitate und der anderen Jurisdiktionen 
des Landes erfolgte. Vgl. Viroszil, Das Staatsrecht des Königreichs Ungarn, 
Pest 1865/66, Bd. 3, S. 56fg. Noch der Gesetzesartikel III von 1868 erhielt diese
	        
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