8 74. Das Eisenbahnwesen. 117
Il. Neben der Tendenz, die Anlage neuer Bahnstrecken im Bun-
desgebiete zu erleichtern, wurde bei Abfassung der norddeutschen
Bundes- (resp. Reichs-\Verfassung vorzüglich das Ziel verfolgt, die Ein-
heitlichkeit des Betriebes auf sämtlichen Bahnen Deutschlands her-
zustellen. Eine notwendige Vorbedingung zur Erreichung dieses Zieles
besteht darin, daß die Bahnen nach gleichmäßigen Normen angelegt
und ausgerüstet werden und daß die technische Verwaltung (der Be-
trieb) nach übereinstimmenden Grundsätzen geführt wird. Dieser
oberste Grundsatz, der von weitreichender Bedeutung ist und in seinen
letzten Konsequenzen dazu führen kann, die Oberleitung der gesamten
Eisenbahnverwaltung völlig auf das Reich zu übertragen, hat im Art. 42
der Reichsverfassung einen sehr sonderbaren Ausdruck erhalten. Der
Artikel lautet nämlich:
»Die Bundesregierungen verpflichten sich, die
deutschen Eisenbahnen im Interesse des allgemeinen Verkehrs!)
wie ein einheitliches Netz verwalten und zu diesem Behuf auch
die neu herzustellenden Bahnen nach einheitlichen Normen an-
legen und ausrüsten zu lassen.«
Diese Fassung erinnert an die alten Zollvereinsverträge oder an
die Privatverträge der Eisenbahnverwaltungen, durch welche sie Eisen-
bahnverbände errichtet haben. Die Verfassung fällt vollkommen aus
der Ausdrucksweise des Gesetzgebers heraus; sie befiehlt nicht, sie
sanktioniert keine Regel, sondern sie enthält ein Versprechen der Ein-
zelstaaten. Das Reich legt nicht den Bundesstaaten eine Pflicht auf,
sondern die Bundesregierungen »verpflichten sich«, sie leisten und
akzeptieren gegenseitige Zusicherungen. Dieser Ausdrucksweise liegt
der Gedanke zugrunde, daß das Eisenbahnwesen der Selbstverwaltung
der Einzelstaaten überlassen bleiben soll und daß sie kraft eigenen
Rechts die Hoheitsrechte über die Eisenbahnen auszuüben haben; sie
sollen sie aber nach übereinstimmenden Grundsätzen und in gleicher
Art und Weise ausüben. Die Bundesstaaten verpflichten sich sowohl
gegeneinander als dem Reich gegenüber. Das Reich ist berechtigt, die
Erfüllung und Durchführung der in Art. 42 ausgesprochenen Ver-
pflichtungen zu beaufsichtigen; aber auch jeder Bundesstaat hat ein
Interesse daran, daß die Verpflichtungen des Art. 42 von den anderen
Bundesstaaten erfüllt werden, und er hat das Recht, mit den durch
die Reichsverfassung gegebenen Mitteln auf diese Erfüllung zu dringen ?).
1) „Allgemeiner“ Verkehr bedeutet nicht, wie Dambitsch S. 525 meint, den
Gegensatz zum Lokalverkehr, sondern den öffentlichen, dem Publikum zugäng-
lichen Verkehr im Gegensatz zu den für einen einzelnen’Betrieb, z. B. einer Fa-
brik, eines Bergwerks, ausschließlich bestimmten Bahnen. Vgl. HGB. $ 453; Tele-
graphenges. $ 5.
2) Die entgegengesetzte Ansicht von Löning S. 623, Note 2, welche Schulze
Bd. 2, S. 206 reproduziert, tut dem Wortlaut des Art. 42 Gewalt an. Mit Recht be-
zeichnet G. Meyer-Dochow, Verwaltungsrecht $ 107, die im Art. 42 dem Reich
eingeräumte Funktion als eine „vermittelnde, welche der Reichsgewalt keinerlei