378 $ 84. Die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit.
liche Funktion, die Handhabung der Strafgewalt'). Damit dieselbe aber
in jedem einzelnen Falle ohne Willkür und Parteilichkeit sich voll-
ziehe, ist ihre Ausübung an einen gesetzlich bestimmten Weg gewiesen;
die Vollstreckung der Strafe soll sich nicht nach Art der Rache un-
mittelbar an die verbrecherische Tat schließen, sondern es soll ein
Urteil des Gerichts dazwischen treten, durch welches die Schuld und
die Strafe nach Maßgabe der objektiven Rechtsnormen und der Um-
stände des Falls festgestellt werden. Diese Feststellung kann nicht
ersetzt werden durch Schiedsspruch oder Anerkenntnis; sie erfolgt nicht,
um einen Streit zu schlichten; sie ist auch nicht bloß im Interesse
des Angeschuldigten eingeführt, sondern sie soll den Staat selbst
vor dem Mißbrauch seiner Strafgewalt schützen und ihm eine Garantie
gewähren, daß diese Gewalt nach den Geboten der Gerechtigkeit ge-
handhabt werde. Die Strafgerichtsbarkeit fällt daher staatsrechtlich
mit der Strafgewalt selbst zusammen; der Strafprozeß ist gleichsam
der Weg, den die letztere in jedem einzelnen Anwendungsfall zu durch-
laufen hat’). Während die Verurteilung im Zivilprozeß die Gewäh-
rung eines Antrags auf Entfaltung der Staatsgewalt ist, bedeutet
die Verurteilung im Strafprozeß die Erfüllung einer Bedin-
gung (Voraussetzung), an welche der Staat selbst die Ausübung seiner
eigenen Gewalt gebunden hat‘). Aber auch im Strafprozeß ist das Ur-
teil kein bloßer Wahrspruch über Schuld oder Nichtschuld des Ange-
1) Vgl. Heinze, Zur Physiologie des Strafprozesses. Im Gerichtssaal Bd. 28,
S. 561 ff., besonders S. 579. Ferner die vortrefflichen Ausführungen von John, Straf-
prozeßordnung II, S. 105 ff. Vgl. auch Hugo Meyer, Strafrecht (4. Aufl) S. 57.
Merkel, Deutsches Strafrecht (1889), S. 173. Glaser, Strafprozeß I, S. 14 fg.
v. Kries in der Zeitschrift für die ges. Strafrechtswissensch. Bd. 9, S. 2 und Lehr-
buch des Strafprozeßrechts S. 1 fg. Ullmann, Lehrbuch des deutschen Strafpro-
zeßrechts (1893), S. 2 fg., 78. J. Goldschmidta.a. O.S. 20 ff.
2) In dem Urteil des Reichsgerichts (III Strafsenat) vom 11. Juni
1881 (Entsch. in Strafsachen Bd. 4, S. 356 ff.) heißt es: „Die Aufgabe des Strafpro-
zesses in jedem konkreten Falle besteht darin, zu ermitteln und festzustellen, ob
gegen den Angeklagten der Beweis einer strafrechtlichen Schuld geführt wor-
den sei.“ Dies ist zu eng; der Strafprozeß ist in keinem Falle ein bloßes Beweis-
verfahren und sein Endziel ist nicht die Feststellung der Schuld oder Nichtschuld
des Angeklagten, sondern die Verhängung einer Strafe oder die Freisprechung von
derselben. Vgl. Johna.a. O.S. 128.
3) Im Gegensatz hierzu beruht die Darstellung des deutschen Strafverfahrens
von Planck (Göttingen 1857) auf der Anschauung, „daß die Pflicht des Verbrechers,
sich der Strafe zu unterwerfen, den Gegenstand des Strafverfahrens bildet“ und daß
durch „die öffentliche Klage der Staat sein Recht auf Strafe“ gegen den Verbrecher
gerichtlich geltend mache. S. 118 a. a. OÖ. Die Strafe beruht nicht auf einem Straf-
anspruch des Staates wie die germanische Komposition, sondern auf der Straf-
gewalt des Staates. Der Anspruch des Verletzten auf Buße war ein Privatanspruch
wie der heutige Anspruch auf Schadensersatz aus Delikten und das Kompositionsver-
fahren war dem Zivilprozeß wesensgleich; der heutige Strafprozeß dagegen dient
nicht einem Anspruch des Staates auf ein Leisten oder Dulden, sondern ist eine
Ausübung der Staatsgewalt behufs Zufügung eines Uebels wegen eines Bruchs der
Rechtsordnung und ist dem Zivilprozeß nicht gleichartig.