Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

& 85. Die Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten. 401 
Dagegen ist der erwähnte Grundsatz modifiziert worden durch 
eine reichsgesetzliche Anordnung von spezifisch staatsrechtlichem 
Charakter. Das Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz be- 
stimmt nämlich in $ 8, Abs. 1: 
»Durch die Gesetzgebung eines Bundesstaates, in welchem 
mehrere Oberlandesgerichte errichtet werden, kann die Verhand- 
lung und Entscheidung der zur Zuständigkeit des Reichsgerichts 
gehörenden Revisionen (und Beschwerden) !) in bürgerlichen 
Rechtsstreitigkeiten einem obersten Landesgerichte 
zugewiesen werden.« 
Wenn der tatsächliche Zustand der deutschen Gerichtsverfassung 
dem Wortlaut dieser Gesetzesbestimmung wirklich entspräche, so 
würde die letztere in dem ganzen Bau des deutschen Verfassungsrechts 
eine hervorragende Anomalie bilden; nicht das Reich als die über- 
geordnete souveräne Gewalt würde den Hoheitsrechten der ihm unter- 
geordneten Staaten Maß und Ziel setzen, sondern die Einzelstaaten 
würden befugt sein, zu bestimmen, ob sie die Gerichtsbarkeit in der 
Revisionsinstanz selbst ausüben oder dem Reich zuweisen wollen; die 
Zuständigkeit des Reichsgerichts in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten 
wäre nur eine subsidiäre, durch den tatsächlichen Verzicht der 
einzelnen Staaten auf Errichtung eines obersten Landesgerichts be- 
dingte?). In Wirklichkeit verhält sich dies anders. Zunächst hat das 
Reichsgesetz vom 11. April 1877 über den Sitz des Reichsgerichts 
(Reichsgesetzbl. S. 415) die Anwendung dieser Rechtsvorschrift auf das 
Königreich Sachsen, in dessen Gebiet das Reichsgericht seinen Sitz 
erhalten hat, ausgeschlossen, und Sachsen hat infolgedessen nur ein 
Oberlandesgericht errichtet. Ebenso haben Württemberg und Baden 
sich mit der Errichtung je eines Oberlandesgerichts begnügt, und in 
den kleineren Staaten war die Errichtung von mehr als einem Ober- 
landesgericht von selbst tatsächlich ausgeschlossen. Es bleiben daher 
nur zwei Staaten übrig, in welchen die im angeführten Gesetz aufge- 
stellte Voraussetzung des Nebeneinanderbestehens mehrerer Ober- 
landesgerichte tatsächlich verwirklicht ist, nämlich Preußen und 
Bayern. Preußen hat darauf verzichtet, von der im $ 8 zitierten, ihm 
eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen; der einzige deutsche 
Staat, in welchem dieser Artikel praktische Bedeutung erlangt hat, ist 
demnach Bayern, welches durch Landesgesetz vom 23. Februar 
S. 60, „daß nicht nur die Gerichtsbarkeit des Reiches souverän ist, sondern auch 
die der Einzelstaaten, soweit ihre Gerichte sich als höchste Instanz darstellen“, — 
nicht als zutreffend erachtet werden; sie beruht auf einer Vermengung prozeßrecht- 
licher und staatsrechtlicher Gesichtspunkte. 
1) Diese Worte sind durch das Reichsgesetz vom 22. Mai 1910, Art. II gestrichen. 
Siehe unten. 
2) In der subsidiären Zuständigkeit des Reichsversicherungsamtes gegenüber 
einem Landesversicherungsamt besteht eine solche Anomalie.
	        
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