$ 86. Die Gerichtsbarkeit des Reichs. 407
des Reiches die Möglichkeit einer Ausgleichung des Widerspruches ge-
boten ist. Denn da die Gerichtsbarkeit jedes Einzelstaates und die
Rechtskraft der Urteile sich auf das ganze Bundesgebiet erstrecken,
so muß mit Rücksicht auf die Sicherheit der Rechtsprechung und auf
das Vertrauen des Volkes zur Rechtspflege dafür Sorge getragen wer-
den, daß nicht unter den Gerichten des Bundesgebietes hinsichtlich
einer und derselben Rechtsfrage ein unlöslicher Widerspruch bestehe.
Für diejenigen Rechtsnormen, welche nur innerhalb des Bezirkes eines
Oberlandesgerichtes gelten, ist durch die Rechtsprechung des letzteren
die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung verbürgt; wenn dagegen eine
Rechtsnorm außer in dem Bezirk des Berufungsgerichtes mindestens
noch in dem Bezirk eines deutschen Oberlandesgerichtes Geltung hat,
so muß die Anrufung des Reichsgerichts gestattet sein, um den Ein-
klang der Rechtsauslegung unter den Oberlandesgerichten zu sichern.
Freilich wird dieser Erfolg durch die Bestimmung des 8 549 nicht
vollständig erreicht, sondern nur für den regelmäßigen Fall, daß die
Gerichte nach der lex fori entscheiden; wenn in einer Rechtssache
ausländisches Recht oder das Recht eines anderen, wenngleich zum
Deutschen Reich gehörenden, Rechtsgebietes von einem Oberlandes-
gerichte in Anwendung zu bringen ist, kann das letztere von der Aus-
legung eines anderen Oberlandesgerichtes abweichen, ohne daß durch
das Rechtsmittel der Revision die Entscheidung des Reichsgerichts
herbeigeführt werden kann!').
Aber auch abgesehen von dieser Beschränkung der Tragweite des
im 8 549 cit. aufgestellten Prinzips ist das letztere selbst nicht ein ab-
solut durchgreifendes, sondern es sind Modifikationen desselben nach
beiden Richtungen gestattet. Mit Zustimmung des Bundesrats kann
durch kaiserliche Verordnung bestimmt werden, sowohl daß die Ver-
letzung von Gesetzen, obgleich deren Geltungsbereich sich über den
Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt, die Revision nicht be-
gründe, als auch, daß die Verletzung von Gesetzen, obgleich deren
Geltungsbereich sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hin-
aus erstreckt, die Revision begründe?). Die erste dieser beiden Ab-
weichungen betrifft namentlich die Partikulargesetze älterer Zeit, deren
Geltungsgebiete infolge der Territorialveränderungen oder der Umge-
staltung der Gerichtsverfassung geteilt worden sind, so daß sie gegen-
wärtig in den Bezirken mehrerer Staaten beziehentlich mehrerer Ober-
landesgerichie liegen °).
1) Vgl. Eccius in Gruchots Beiträgen zur Erläuterung des deutschen Rechts
Bd. 24, S. 23 ff.; Reuling, Revisible und nichtrevisible Rechtsnormen, Berlin 1880
(Separatabdruck aus der Jurist. Wochenschr. von 1880). Vgl. Entsch. des Reichsge-
richts in Zivils. Bd. 10, S. 115, 172, Bd. 28, S. 141.
2) Einführungsgesetz zur Zivilprozeßordnung Art. 6.
3) In dieser Beziehung hat die Verordnung vom 28. September 1879, $1 (Reichs-
gesetzbl. S. 299) den Grundsatz aufgestellt, daß die Revision auf die Verletzung an-
derer Gesetze als derjenigen des gemeinen oder französischen Rechts nur gestützt