Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

$ 93. Das Begnadigungsrecht. 505 
Ausgesetzten. Man unterscheidet hiernach zwei Arten der Begnadigung. 
Die Begnadigung im engeren Sinne ist der gänzliche oder teilweise 
Erlaß oder die Milderung einer durch rechtskräftiges Urteil zuer- 
kannten Strafe; die Niederschlagung (Abolition, Amnestie) ist die Be- 
freiung jemandes von einer Strafverfolgung, der er von Rechts wegen 
ausgesetzt ist. 
Die Begnadigung im engeren Sinne ist stets die Erweisung einer 
Gunst; die Abwendung einer noch gar nicht begonnenen Strafverfolgung 
kann wenigstens dem von einer Anklage Bedrohten in keinem Falle 
Schaden bringen. Dagegen kann die Niederschlagung eines bereits im 
Gang befindlichen Strafverfahrens die rechtliche Lage des Angeschuldig- 
ten insofern verschlechtern, als ihm die Möglichkeit der Freisprechung, 
der urteilsmäßigen Feststellung seiner Nichtschuld, dadurch genommen 
wird. Da nun die Begnadigung ihrem Begriff und Wesen nach dem- 
jenigen, welchem sie zuteil wird, immer nur einen Vorteil bringen 
soll, so ist die Niederschlagung eines bereits bei Gericht an- 
hängigen Strafverfahrens dem Inhaber des Gnadenrechts nicht in 
allen Staaten gestattet; sie ist auch praktisch entbehrlich, da im Falle 
der Verurteilung die Begnadigung immer noch erteilt werden kann. 
Die Begnadigung im engeren Sinne und die Untersagung der Straf- 
verfolgung vor Beginn des Prozesses dagegen bestanden in allen deut- 
schen Staaten vor Errichtung des Norddeutschen Bundes und des 
Deutschen Reiches. 
Es erhebt sich nun aber die staatsrechtlich bedeutsame Frage, ob 
durch die reichsgesetzliche Regelung des Strafrechtes und des Straf- 
verfahrens und durch die verfassungsmäßige Pflicht der Einzelstaaten 
zur Befolgung und Durchführung dieser Reichsgesetze das Begnadigungs- 
recht der Einzelstaaten eine Veränderung erfahren habe. Die Anord- 
nungen der Reichsgesetze, welche ausdrücklich das Begnadigungsrecht 
erwähnen, sind wenig zahlreich; sie betreffen größtenteils die Fälle, in 
denen das Begnadigungsrecht dem Kaiser eingeräumt ist; dagegen geben 
sie keinen unmittelbaren Aufschluß über das Begnadigungsrecht der 
Einzelstaaten im Verhältnis zum Reich und zueinander. Für die Beant- 
wortung dieser Frage ist man auf die Resultate angewiesen, welche 
sich aus dem juristischen Wesen des Begnadigungsrechts und den 
Grundprinzipien der deutschen Gerichtsverfassung /herleiten lassen. 
Was nun die rechtliche Natur der Begnadigung anlangt, so sind 
zunächst zwei Ansichten als irrtümlich zurückzuweisen, welche selbst 
in der neuesten Literatur noch Vertreter haben!). 
S. 247 ff., Stuttgart 1889; H. Seuffert in v. Stengels Wörterbuch des Deutschen 
Verwaltungsrechts I, S. 147 ff. (1890. Löwe, Strafprozeßordnung 9. Aufl., S. 25 ff.; 
J. Heimberger, Das landesherrliche Abolitionsrecht, Leipzig 1901; v. Bar, Ge- 
setz und Schuld Bd. 3, $ 203; Delaquis im Wörterbuch des deutschen Verwaltungsr. 
von Fleischmann Bd. I, S. 374fg.; Fleischmann daselbst S. 50 fg. (Abolition). 
1) Eine kritische Darstellung der verschiedenen Theorien über das juristische 
Wesen der Abolition gibt Heimberger S. 6 ff. 
 
	        
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