& 106. Die gesetzliche Wehrpflicht. 135
1. Die Wehrpflicht ist eine staatsbürgerliche Verpflichtung;
sie beruht auf der Staats- resp. Reichsangehörigkeit und ist das Korrelat
des staatsbürgerlichen Rechts auf Schutz. Die Wehrpflicht steht daher
begrifflich im Gegensatz zur vertragsmäßigen Verpflichtung
zur Leistung militärischer Dienste. Das System der allgemeinen Wehr-
pflicht unterscheidet sich juristisch von dem Werbesystem, indem das
erstere das Hoheitsrecht des Staates, von seinen Untertanen persön-
liche Militärdienste zu verlangen, zur Grundlage hat, bei .dem letzteren
dagegen ein solches Hoheitsrecht nicht anerkannt oder wenigstens
nicht zur Durchführung gebracht wird, sondern die Leistung von mili-
tärischen Diensten durch Verträge gesichert wird. Die Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht enthebt den Staat der Notwendigkeit,
die erforderlichen Militärkräfte sich vertragsmäßig zu verschaffen, aber
sie schließt diesen zweiten Weg nicht aus; soweit militärische Bedürf-
nisse durch die allgemeine Wehrpflicht nicht völlig gedeckt werden,
ist der Staat auf die vertragsmäßige Gewinnung der erforderlichen
Kräfte hingewiesen. Dies gilt auch von der Heeresverfassung des Deut-
schen Reiches; dieselbe beruht nicht ausschließlich auf der allgemei-
nen Wehrpflicht und könnte mit ihr allein durchaus nicht erhalten
werden; es besteht neben der staatsbürgerlichen Wehrpflicht die ver-
tragsmäßige Dienstpflicht. Vgl. 8 107.
2. Die Wehrpflicht umfaßt nicht alle für Zwecke der Landesver-
teidigung bestimmten Dienste und Leistungen, sondern lediglich den
Dienst in der organisierten, bewaffneten Macht, d. h. im Heere oder
in der Marine und im Landsturm'). Wenn im Falle äußerster Not
noch über die Mannschaften des Landsturmes hinaus ein Massenauf-
gebot erfolgt, so kann auch dieser Befehl der Staatsgewalt mit Rechts-
wirkungen ausgestattet sein?); aber ihm Folge zu leisten bildet nicht
mehr den Inhalt der in der Reichsverfassung und den Militärgesetzen
anerkannten allgemeinen Wehrpflicht. Ebensowenig begreift dieselbe
solche Dienste, welche außerhalb des Verbandes der bewaffneten Macht
geleistet werden, mögen dieselben auch der Tätigkeit des Heeres zugute
kommen. Andererseits ist aber die Wehrpflicht nicht beschränkt auf
den Waffendienst; sondern sie umfaßt alle militärischen Dienst-
leistungen und es können nicht nur neben dem eigentlichen Waffen-
dienst auch andere Dienstleistungen von dem Wehrpflichtigen gefor-
dert werden, sondern diejenigen Wehrpflichtigen, welche zwar nicht
zum Waffendienste, jedoch zu sonstigen militärischen, ihrem bürger-
lichen Berufe entsprechenden Dienstleistungen fähig sind, können zu
Bestimmungen für das Personal des Soldatenstandes der Marine“ vom 14. Juni 1888;
abgeändert durch Verordnung vom 31. Januar 1898 (Marineverordnungsbl. S. 17)
und vom 26. Juni 1899 (daselbst S. 197).
1) Wehrgesetz 8 2.
2) Vgl. die Motive zum Landsturmgesetz (Drucksachen des Reichstags II. Session
1874, Nr. 14).