Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Vierter Band. (4)

138 $ 106. Die gesetzliche Wehrpflicht. 
fung des Ungehorsams. Die Disziplinarstrafordnung geht über den 
Umfang, welchen die Disziplinargewalt ihrem Begriffe nach sonst hat, 
und der namentlich im Reichsbeamtengesetz festgehalten ist, weit hin- 
aus; sie läßt in weitem Maße die Verhängung von Arreststrafen zu; 
sie ist überhaupt ein zweites Militärstrafgesetzbuch, das gleichsam für 
leichtere Fälle die Ergänzung des eigentlichen vom 20. Juni 1872 bildet. 
Diese Verwendung der Disziplinargewalt hat eine ausdrückliche gesetz- 
liche Anerkennung gefunden im Einführungsgesetz zum Militärstraf- 
gesetzbuch vom 20. Juni 1872, 8 3, welches die Bestrafung im Dis- 
ziplinarwege der Bestrafung auf Grund eines gerichtlichen Erkennt- 
nisses gegenüberstellt, den Gegensatz also lediglich in die Form des 
Verfahrens legt. Zu den leichteren Fällen, welche im Disziplinarwege 
geahndet werden können, gehören nach 8 3, Z. 1 des erwähnten 
Gesetzes gerade auch Ungehorsamsfälle. Die Disziplinargewalt reicht 
aber viel weiter als die eigentliche Strafgewalt; sie ist recht eigentlich 
das Mittel, durch welches der Staat die Erfüllung der militärischen 
Dienstpflicht und insbesondere der Gehorsamspflicht mit unwider- 
stehlicher Kraft und sofortigem Erfolge erzwingt; sie sichert nicht 
nur — wie das Strafgesetz -- den Gehorsam, sondern den promp- 
ten Gehorsam. Der Disziplinarbestrafung unterliegen insbesondere 
alle Handlungen gegen die militärische Zucht und Ordnung und gegen 
die Dienstvorschriften, für welche die Militärgesetze keine Strafbe- 
stimmungen enthalten !). Das Recht, die Vorschriften über die Hand- 
habung der Disziplin im Heere zu erlassen, steht dem Kaiser zu ?). 
Zur Sicherung der Disziplin dienen ferner die Vorschriften über 
die Behandlung von Beschwerden, indem die letzteren den Cha- 
rakter einer Opposition gegen den Vorgesetzten tragen und die Sub- 
ordination beeinträchtigen könnten. Um dies zu verhüten, ist ange- 
ordnet, daß sie nicht sogleich, sondern frühestens am nächsten Mor- 
gen nach dem Vorfall, der zur Beschwerde Anlaß gegeben hat, bzw. 
nach Verbüßung der gegen den Soldaten verhängten Disziplinarstrafe, 
erhoben werden dürfen, ferner sind sie an bestimmte Fristen gebun- 
den, ist die Beobachtung eines bestimmten Weges und Verfahrens, 
die Meldung bei dem nächsten direkten Vorgesetzten (Kompaniechef) 
usw. vorgeschrieben?). Die Verletzung dieser Vorschriften ist — ganz 
1) Disziplinarstrafordnung $ 1, Ziff. 1. Vgl. Hecker, Lehrbuch des deutschen 
Militärstrafrechts 1887, S. 15 ff. 
2) Militärstrafgesetz $ 8. Für die Marine ergibt sich derselbe Rechtssatz aus der 
Reichsverfassung Art. 63. Ueber Bayern vgl. Militärgesetz S 72 und oben S. 14. 
3) Bestimmungen über die Beschwerdeführung der Personen des Soldatenstandes 
des Heeres vom Feldwebel abwärts vom 14. Juni 1894 (Armeeverordnungsbl. S. 189 ff.) 
und für die Personen des Soldatenstandes der Marine vom Deckoffizier abwärts vom 
23. Oktober 1894 (Marineverordnungsbl. S. 247); für Unterärzte und Militärkranken- 
wärter vom 10. August 1894 (Armeeverordnungsbl. S. 231). Ferner Bestimmungen vom 
30. März 1895 (Armeeverordnungsbl. S. 95) über die Beschwerdeführung der Offiziere, 
Sanitätsoffiziere und Beamten des Heeres. Durch diese Verordnungen sind die älte-
	        
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