364 8 116. Die Reichsschulden.
Durch die Etatsgesetze wird nämlich alljährlich der Reichskanzler
ermächtigt, zur vorübergehenden Verstärkung der Betriebsfonds der
Reichskasse nach Bedarf Schatzanweisungen bis zu einem be-
stimmten Maximalbetrage auszugeben. Die Notwendigkeit dieser vor-
übergehenden Kreditbenutzungen beruht vorzugsweise darauf, daß in
den Wintermonaten die Ausgaben für das Militärwesen sehr erheb-
lich den monatlichen Durchschnittsbetrag übersteigen, während sie in
den Sommermonaten unter demselben zurückbleiben, daß dagegen die
Einnahmen aus den Zöllen und Verbrauchssteuern gerade in den
ersten Monaten des Jahres hinter dem monatlichen Durchschnitt zu-
rückbleiben ',. Sollen daher nicht die Einzelstaaten der Reichsver-
waltung Vorschüsse leisten, so muß die Reichskasse in die Lage ver-
setzt werden, den zeitweiligen Mehrbedarf der Militärverwaltung über
die effektiven Einnahmen durch Anleihen auf kurze Frist zu decken,
indem in den Sommermonaten der reichlichere Eingang der Zölle
und Verbrauchssteuern verbunden mit dem Minderbedarf der Mili-
tärverwaltung der Reichskasse die Rückzahlung dieser Anleihen er-
möglicht.
In ähnlicher Weise ist für die Durchführung des Münzwesens, für
die Vorausanschaffungen der Reichseisenbahnverwaltung, für den
Postanweisungsverkehr, für den Zentralkassenverkehr des Reiches vor-
übergehend das Bedürfnis nach baren Betriebsmitteln in einem höhe-
ren Grade als zu anderen Zeiten des Etatsjahres vorhanden’). Es
wäre unzweckmäßig, die Reichskasse mit einem, auch für die Zeit des
größten Bedürfnisses genügenden Betriebsfonds auszustatten, da der-
selbe das ganze Jahr hindurch Zinsen kosten würde, während der
Schatzanweisungskredit nach dem Maße des Bedürfnisses in Anspruch
genommen werden kann.
Die Schatzanweisungen haben in finanzieller Beziehung recht
eigentlich den Charakter der Verwaltungsschuld und sind geeignet, den
Gegensatz der Verwaltungs- und Finanzschulden, sowie die Tragweite
dem Jahresbudget des Reichs keine Deckung; sie sind verzinsliche „Zwangsanleihen“,
deren Verzinsung und Rückzahlung zukünftiger Fürsorge überlassen bleibt, also
Kreditoperationen, nur nicht in der Form der Anleihe. G. Meyer sucht die Fassung
des Art. 73 mit der sachlichen Unterscheidung von Finanzschulden und Verwaltungs-
schulden dadurch in Einklang zu bringen, daß er jede Kreditoperation als
Anleihe bezeichnet (Verwaltungsrecht II, S. 274) und andererseits in allen Fällen, in
denen die Form der Anleihe Anwendung findet, z. B. bei Ausgabe von Schatzan-
weisungen, Finanzschulden annimmt (ebendaselbst S. 281, 405). Dabei geht freilich
ebensowohl ein bestimmter Rechtsbegriff der Anleihe als ein durch feste Merkmale
gegebener Gegensatz der Finanz- und Verwaltungsschulden verloren, was schon darin
zutage tritt, daß er die Kriegsanerkenntnisse für Verwaltungsschulden erklärt. Anders
Meyer-Dochow.a.a.O0.
1) In den sechs Wintermonaten vom November bis April verbraucht die Militär-
verwaltung °/s, in den sechs Sommermonaten ?°/s ihres Etats.
2) Vgl. die Denkschrift zu dem Entwurf des Etatsgesetzes für 1872, sowie die
Denkschrift zu dem Entwurf des Etatsgesetzes für 1882/83, S. 52 fg.